Zölibat sei Faktor bei Missbrauch, aber nicht der Hauptgrund

Bonnemain: Missbrauchsbetroffene haben Recht, nicht zu verzeihen

Veröffentlicht am 11.12.2023 um 11:51 Uhr – Lesedauer: 

Chur ‐ Im priesterlichen Pflichtzölibat sieht der Churer Bischof Joseph Bonnemain einen Faktor für Missbrauch in der Kirche. Eine Abschaffung allein würde nicht helfen, eine Öffnung kann er sich jedoch vorstellen.

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Aus Sicht des Churer Bischofs Joseph Bonnemain müssen Missbrauchsbetroffene Tätern nicht verzeihen. Für ihn selbst sei das leichter, da er nicht persönlich betroffen sei. "Ich gehe liebevoll, friedfertig, zugeneigt und mit Empathie auf jeden Menschen zu – auch auf Täter. Die Betroffenen hingegen haben das Recht, nicht zu verzeihen", sagte er der "Schweizer Illustrierten" in einem Interview (Sonntag). Als christlicher Mensch müsse man nicht verzeihen, es solle vielmehr freiwillig und aus Überzeugung geschehen. "Verzeihen fällt den Betroffenen leichter, wenn sie sehen, dass die Kirche sich verändert. Wenn sie darauf vertrauen können, dass die Menschen in Zukunft vor solchen Taten bestmöglich geschützt sind", erklärte der Bischof. Die Menschen seien erst dann beruhigt, wenn die Kirche sich mit dem Ausmaß des Missbrauchs restlos auseinandergesetzt habe. "Solange die Kirche das nicht wagt, bleibt eine Wunde in den Herzen zurück." Die Kirche müsse hier Maßnahmen umsetzen, sonst fänden die Betroffenen keinen Frieden.

Im Juni hatte das vatikanische Bischofsdikasterium auf Initiative der päpstlichen Nuntiatur eine kirchenrechtliche Voruntersuchung gegen mehrere amtierende und emeritierte Schweizer Bischöfe eingeleitet. Den Bischöfen werde vor allem die Vertuschung von Missbrauchsfällen vorgeworfen, gegen einzelne Beschuldigte steht auch der Vorwurf im Raum, selbst sexuelle Übergriffe begangen zu haben. Der Vatikan setzte daraufhin Bonnemain als Untersuchungsleiter ein. Außerdem ist Bonnemain gemeinsam mit dem Baseler Bischof Felix Gmür innerhalb der Schweizer Bischofskonferenz verantwortlich für die Kommission "Genugtuung für Opfer von verjährten sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld" und für das Fachgremium "Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld".

"Sonst bekommen wir wieder Schwierigkeiten"

Im Interview betonte Bonnemain auch, dass der priesterliche Pflichtzölibat aus seiner Sicht ein Faktor beim Missbrauch sei, aber nicht der Hauptgrund. "Durch seine Abschaffung allein hätten wir noch nicht viel getan für die Prävention von Missbräuchen", so der 75-Jährige. Er könne sich jedoch vorstellen, dass der Zölibat in Zukunft nicht mehr verpflichtend, sondern eine Option sei. Alle Priesteramtskandidaten müssten gründlich und professionell geprüft werden. "Sonst bekommen wir wieder Schwierigkeiten."

Aus seinen eigenen Gesprächen mit Missbrauchsbetroffenen beschäftige ihn vor allem eine Frage: "Wie kann ich die Betroffenen davon überzeugen, dass sie keinerlei Schuld tragen an dem, was ihnen passiert ist? Keinen Millimeter Schuld." Mit anderen Bischöfen, die der Meinung seien, man solle die Kirche endlich in Ruhe lassen, geht Bonnemain nach eigenen Worten "verständnisvoll und geduldig" um. "Dasselbe gilt für jene, welche die Kirche komplett umkrempeln möchten. Ein Bischof, der nur für eine kleine Clique da ist, ist fehl am Platz."

Unterdessen berichtete der Schweizer "Tagesanzeiger", dass die Austrittszahlen aus der katholischen Kirche nach der Veröffentlichung der Schweizer Missbrauchsstudie in die Höhe geschnellt seien. Besonders hoch seien die Austrittszahlen demnach etwa in der Kirchengemeinde Luzern, in der seit Erscheinen der Studie 270 Personen pro Monat ausgetreten seien. 2022 seien es im selben Zeitraum 65 Personen gewesen. Auch in anderen Gemeinden und Städten gibt es demnach sprunghaft angestiegene Austrittszahlen. Im September hatte die Universität Zürich eine Pilotstudie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche veröffentlicht. Diese dokumentiert 1.002 Missbrauchsfälle in der Kirche in der Schweiz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. (cbr)