Doch kein Skandal: Das "Orgasmus-Buch" von Kardinal Fernández
"Ich liebkose Deine Lippen und in einem ungeheuren Impuls von Zärtlichkeit erlaubst Du mir, dass ich sie sanft küsse." Dieser Satz stammt nicht etwa aus einem schwülstigen Liebesgedicht, sondern aus einem Buch, das der heutige Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre vor etwas mehr als 25 Jahren veröffentlicht hat. Kardinal Víctor Manuel Fernández beschrieb als junger Seelsorger in der knapp 100 Seiten umfassenden Schrift „Die mystische Leidenschaft“ mit diesen Worten eine spirituelle Christus-Erfahrung einer 16 Jahre alten Jugendlichen. Sie sieht Jesus am Ufer eines Sees und fällt in Verzückung, ganz davon beseelt, dem menschgewordenen Gottessohn auf körperliche Weise ihre Hingabe zu zeigen – und sie bleibt nicht bei den Lippen des Herrn stehen: "Anschließend liebkose ich Deine zarten Beine, die mir perfekt gestaltete Säulen zu sein scheinen, voller Kraft und Vitalität."
Es sind Sätze wie diese, die vor einigen Tagen vehemente Kritik an Fernández auf den Plan gerufen hatten. Der traditionalistische Blog "Messa in Latino" berichtete Anfang der Woche über die 1998 erschiene Schrift des aktuellen Glaubenspräfekten. Besonders die Thematisierung des Orgasmus und ein Vergleich mit mystischen Erfahrungen standen dabei im Fokus. Bereits kurz nach seiner Ernennung zum Präfekten des Glaubensdikasteriums Anfang Juli vergangenen Jahres hatte es eine ähnliche Kampagne gegen ein Buch von Fernández gegeben. Damals stand seine 1995 veröffentlichte Schrift "Heile mich mit deinem Mund. Die Kunst des Kusses" im Zentrum der Auseinandersetzung. Nach dem Kuss-Buch nun also der Skandal um eine Publikation mit Orgasmus-Texten?
Das dürfte jedenfalls der Plan der Kritiker von Fernández gewesen sein, denn der Zeitpunkt des Hinweises auf ein scheinbar kompromittierendes Werk des Glaubenspräfekten ist bewusst gewählt: Seit knapp einem Monat tobt in der katholischen Kirche ein handfester Konflikt um die Segnung von homosexuellen und wiederverheirateten Paaren, nachdem die Behörde des argentinischen Kardinals eine Erklärung veröffentlicht hatte, die einen solchen Segen unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Was von einem Teil der Weltkirche als Fortschritt bei der Integration von queeren Gläubigen gefeiert wird, stößt bei vielen anderen auf vehemente Ablehnung. Die Kritik wurde derart stark, dass sich Fernández genötigt sah, das von ihm verantwortete Papier "Fiducia supplicans" mehrfach zu erklären und dabei etwa detailliert herausstellte, dass entsprechende Segnungen nur wenige Sekunden zu dauern hätten – ein Sieg für die lautstarken konservativen Kritiker des Präfekten. In diesem Moment der Schwäche sollte ein weiterer Eklat Fernández noch mehr in Bedrängnis bringen, mögen sich seine Widersacher gedacht haben.
Auch wenn ein großer Skandal bislang ausgeblieben ist, enthält das "Orgasmus-Buch" einige fragwürdige Aussagen – wenn diese sich auch auf andere Punkte beziehen, als sich die treibenden Kräfte hinter dem Hinweis auf Fernández' Schrift wahrscheinlich vorgestellt haben. Die Thematisierung des sexuellen Orgasmus ist für einen katholischen Priester wohl immer ein gewagtes Unterfangen. Doch Fernández wollte mit "Die mystische Leidenschaft" mit jungen Paaren über die spirituelle Bedeutung ihrer Beziehungen ins Gespräch kommen. Daher sei das Buchprojekt vom Kern her sinnvoll gewesen, verteidigte sich der Kardinal nach der Kritik an seinem Werk. Schon bald nach der Veröffentlichung 1998 habe er befürchtet, dass seine Aussagen falsch interpretiert werden könnten. Deshalb hatte er bereits kurze Zeit später die weitere Herausgabe abgebrochen und Neuauflagen nicht zugestimmt. Fernández scheint sich sogar etwas für das Büchlein geschämt zu haben, denn in der vom Vatikan veröffentlichten Liste seiner Publikationen wird es nicht aufgeführt.
Plattitüden darüber, wie sich ein Orgasmus anhört
Für den heutigen Leser ist wohl nicht die Beschäftigung mit Sexualität das Problem an Fernández' Buch. Vielmehr stolpert man bei der Lektüre über Aussagen zu den Geschlechtern, die als Plattitüden oder sogar Stereotype gelten müssen. "Normalerweise empfindet die Frau, mehr als der Mann, Sex ohne Liebe als unbefriedigend" ist einer dieser Sätze. Sie schätze Liebkosungen und Küsse mehr und sei darauf angewiesen, dass der Mann vor der Penetration "etwas mit ihr spielt". Und weiter: "Im Moment des Orgasmus pflegt Er, aggressive Laute von sich zu geben; Sie, kindliches Gestammel oder Seufzer." Dennoch ist dem heutigen Kardinal hoch anzurechnen, dass er dieses Thema mit Ehepaaren überhaupt ins Wort bringen wollte. Dabei machte Fernández sogar Aussagen, die allzu starren Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten eine Absage erteilen: "Aber vergessen wir nicht, dass auf hormoneller und psychologischer Ebene weder das reine Männchen noch das bloße Weibchen existiert."
Ansonsten geht Fernández in einem Großteil des Büchleins auf die spirituellen Erfahrungen der Mystiker im Lauf der Kirchengeschichte ein, die ihre Nähe zu Gott immer wieder als körperliche Ekstase empfunden haben. Er spannt den Bogen von Teresa von Ávila über Johannes vom Kreuz zu Margareta Maria Alacoque und berichtet von den mystischen Erlebnissen dieser und weiterer Heiliger. Auch auf die Aussagen der Heiligen Schrift zur geistlichen Vereinigung mit Gott, etwa im Hohelied, geht der heutige Kardinal ein. Insgesamt stellt er in seiner kleinen Schrift nicht viel Neues zusammen und legt dabei nicht einmal einen literarisch besonders anspruchsvollen Ton an den Tag. Im Großen und Ganzen ist das "Orgasmus-Buch" von Fernández nicht als großer Wurf zu bezeichnen und würde, wenn es heute von einem jungen Priester verfasst worden wäre, wohl nicht zu einem Skandal führen.
Der Glaubenspräfekt wusste jedoch um das generelle Aufreger-Potential seines Buches und hatte Papst Franziskus noch vor seiner Ernennung zum Leiter der vatikanischen Glaubensbehörde von der Schrift in Kenntnis gesetzt. Der Papst sei sich des Buches und möglicher Konsequenzen also bewusst gewesen, sagte Fernández am Freitag in einem Interview. "Zufälligerweise wurde ich schon einmal vor vielen Jahren wegen dieses Buches angezeigt und in Rom nicht dafür sanktioniert. Ich bin bereits bis in die Haarspitzen untersucht worden." Er habe zudem die aktuellen Angriffe auf seine Person kommen sehen: "Sie warteten nur auf die richtige Gelegenheit." Die Kritik an seinem Kurs sei sogar so groß, dass er Drohbotschaften erhalten, die ankündigten, ihn "zu vernichten".
Außerdem bemängelte Fernández, dass er wegen der Thematisierung von Spiritualität und Sinnlichkeit kritisiert werde, obwohl sich schon etwa Papst Johannes Paul II. mit diesem Punkt beschäftigt hätte. In der Tat äußerte sich der polnische Pontifex in seinen Schriften zu Ehe und Sexualität, wie „Liebe und Verantwortung“ aus dem Jahr 1979, relativ offen auch über den Orgasmus. In seiner auch als "Theologie des Leibes" bezeichneten Lehre von der Sexualität, stellt er diese bewusst als Geschenk Gottes dar – und wird für diese Offenheit nicht von konservativen Katholiken kritisiert. Fernández äußerte sich ganz ähnlich: "Alles, was wir gesehen haben, zeigt uns, dass Gott nicht der Feind unseres Glücks ist, dass er unsere Fähigkeit zu lieben nicht einschränkt, denn er ist Liebe, leidenschaftliche Liebe, eine Liebe, die gut tut, die befreit, die heilt."
Die beiden frühen Schriften von Fernández zu erotischen Themen zeigen den heutigen Kardinal als Seelsorger, der sich nicht davor scheut, vermeintlich "heiße Eisen" in der Kirche anzupacken. Die Motivation für seine Bücher stammt aus der Pastoral für Jugendliche und junge Ehepaare, die er zu einem grundsätzlich positiven Blick auf die menschliche Sinnlichkeit anregen möchte – jedenfalls, wenn sie im Rahmen der Ehe gelebt wird. Angesichts der oft als leibfeindlich angesehenen Denktradition der Kirche ist das insgesamt ein begrüßenswerter Ansatz und lässt auf einen Kirchenmann an der Spitze des ehemaligen Heiligen Offiziums hoffen, der mit pastoralem Blick auf die Themen schaut, mit denen sich der Katholizismus schwertut. "Fiducia supplicans" könnte daher nur ein Vorgeschmack auf das sein, was aus Rom in Zukunft noch zu erwarten ist.