Zeitung: Massive Defizite im Umgang mit Missbrauch bei Piusbrüdern
Die Genfer Zeitung "Le Temps" berichtet von massiven Defiziten der Piusbruderschaft im Umgang mit Missbrauch in der traditionalistischen Gemeinschaft. In ihrer Wochenendausgabe beruft sich die Schweizer Tageszeitung auf Angaben einer Vereinigung von Betroffenen im Kontext der Piusbruderschaft, die von etwa 60 "problematischen Priestern" in der Gemeinschaft ausgeht. Nach eigenen Angaben gehörten 2022 erstmals über 700 Priester zur Priesterbruderschaft St. Pius X., die nicht in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche steht. Der Betroffeneninitiative ist unter anderem ein mutmaßlicher Täter bekannt, der in Gabun über 30 Kinder missbraucht haben soll. Im vergangenen Juni wurde ein Mitglied der Bruderschaft von einem französischen Gericht wegen Missbrauchs und Übergriffen mit 27 jugendlichen Betroffenen zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. "Unsere Analyse zeigt, dass die beschriebenen Übergriffe in ganz Europa und der ganzen Welt stattfanden, und zwar fast von der Gründung der Bruderschaft an bis ins Jahr 2020", so die Journalisten.
"Le Temps" hat zehn nachgewiesene Missbrauchsfälle der Gemeinschaft nachrecherchiert und stützt sich dabei auf Gespräche mit Eltern, ehemaligen Schülern und Selbsthilfegruppen, ihr vorliegende interne Unterlagen der Bruderschaft sowie Gerichtsdokumente. Sie kommt zum Ergebnis, dass der Umgang mit beschuldigten Priestern jeweils ähnlich sei: kaum umzusetzende Auflagen, Versetzungen und teilweise nur vorübergehende Absonderung in Einrichtungen der Bruderschaft. "Es kommt jedoch selten vor, dass diese Geistlichen bei der Justiz angezeigt werden, oder diese Anzeigen kommen sehr spät", so der Artikel. Gegenüber der Zeitung betont die Priesterbruderschaft, dass sie auf jede Mitteilung über Missbrauch reagieren. Kein Fall werde vertuscht: "Ganz im Gegenteil, wir ermutigen alle Personen nachdrücklich, die Justizbehörden und uns über Fälle zu informieren, von denen sie Kenntnis haben." Die Gemeinschaft kooperiere umfassend mit den staatlichen Behörden.
Grundschule der Bruderschaft in Wallis wird überprüft
Auf die Recherche hin kündigte die Walliser Schulbehörde an, die Grundschule der Piusbruderschaft in Ecône zu überprüfen. "Le Temps" hatte den Fall eines ehemaligen Schüler der Schule dargestellt. Der heute 41-Jährige sagte unter andere, dass er in den 1980er Jahren im Alter von knapp acht Jahren vor Mitschülern mit heruntergelassener Hose mit Stöcken geschlagen worden sei. Bildungsdirektor Christophe Darbellay kündigte gegenüber dem Schweizer Rundfunk RTS eine Untersuchung an, ob diese Praktiken nach wie vor ausgeübt werden. Gegebenenfalls würden die Behörden die notwendigen Vorkehrungen treffen und Massnahmen anordnen. Schon am Montag werde die Untersuchung beginnen.
Gegenüber "Le Temps" erläuterte der Lausanner Religionssoziologe Josselin Tricou, dass die Piusbruderschaft externe Instanzen völlig ablehne, "da sie die Kirche für eine heilige, vollkommene und autarke Gesellschaft hält, die über alles verfügt, was sie braucht, um sich um sich selbst zu kümmern, wie etwa ein Strafrecht oder Gerichte". Daher sehe man sich auch nicht verpflichtet, Instanzen von außen und insbesondere staatlichen Behörden Rechenschaft abzulegen. Missbrauch in den eigenen Reihen werde Einzeltätern angelastet, systemische Aspekte geleugnet. In Frankreich hatte die Piusbruderschaft ihre Archive nicht für den unabhängigen Missbrauchsbericht zur Verfügung gestellt, der 2021 vorgestellt wurde.
Die Piusbruderschaft wurde 1970 von Erzbischof Marcel Lefebvre gegründet, der insbesondere die Liturgiereform im Nachgang des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) ablehnte. Sie sieht sich selbst in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche, lehnt aber zentrale Lehren des Zweiten Vatikanums ab. 1988 weihte Lefebvre nach dem Scheitern von Verhandlungen mit Rom unerlaubt Bischöfe und zog sich und den Geweihten damit die Exkommunikation zu, bis heute hat die Gemeinschaftkeinen kanonischen Status. Ihr Generalhaus liegt in Menzingen im Schweizer Kanton Zug, ihr internationales Priesterseminar in Ecône im Kanton Wallis. 2020 kündigte der US-Distrikt der Bruderschaft an, Missbrauch in den eigenen Reihen untersuchen zu lassen. (fxn)