"Wir müssen die Familien stärker in den Blick nehmen"

Historiker: Kampf gegen Missbrauch nicht auf Kirchen beschränken

Veröffentlicht am 26.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Bernward Loheide (KNA) – Lesedauer: 

Hamburg ‐ Nach der katholischen kämpft nun auch die evangelische Kirche mit dem Missbrauchsskandal. Die neue Forum-Studie zeigt das Ausmaß des Problems. Thomas Großbölting, einer der Forscher, mahnt: Missbrauch geht weit über die Kirchen hinaus.

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Nach der Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sieht der Historiker Thomas Großbölting den Staat gefordert. Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt müsse auch über die Kirchen hinaus verstärkt werden, sagte der Direktor an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg im Interview. Großbölting war an der am Donnerstag vorgestellten "Forum"-Studie im Auftrag der EKD beteiligt.

Frage: Sind in der evangelischen Kirche weniger Kinder und Jugendliche Opfer sexuellen Missbrauchs geworden als in der katholischen?

Großbölting: Das wissen wir nicht. Denn wir haben in der Forum-Studie eine unzureichende Datenbasis. Es ist nur in wenigen Fällen gelungen, Personalakten der Landeskirchen auszuwerten. Die Zahlen jetzt basieren vor allem auf den Disziplinarakten, so dass uns viele Fälle nicht bekanntwerden. Ausgehend von dieser Einschränkung vermute ich dennoch, dass es vermutlich nicht gefährlicher ist, in eine katholische Messdienergruppe zu gehen als in einen evangelischen Jugendclub.

Frage: Die öffentliche Debatte drehte sich bisher vor allem um Missbrauch in der katholischen Kirche. War das zu einseitig?

Großbölting: Ja, die evangelische Kirche hat sich bei diesem Thema bislang eher im Schatten der katholischen Kirche bewegt. Es ist gesellschaftlich und medial viel einfacher, über katholische Priester zu sprechen – eine Gruppe von alten Männern in bunten Kostümen, die tatsächlich oder vorgeblich zölibatär leben. Wir sehen jetzt aber, dass die Parallelen zwischen beiden Kirchen viel stärker sind als die Unterschiede.

Frage: Die katholische Kirche will im Reformprozess Synodaler Weg Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal ziehen. So steht zum Beispiel das Eheverbot für Priester auf dem Prüfstand. In der evangelischen Kirche gibt es diesen Zölibat nicht, aber trotzdem auch vielfachen Missbrauch. Was bedeutet das?

Großbölting: Es gibt bestimmte Risikofaktoren in der katholischen Kirche, die Tätern den Missbrauch ermöglichen und die Vertuschung begünstigen: eine Sexualmoral, die viele Formen von Sexualität ausgrenzt und zu einer allgemeinen Doppelmoral führt, sowie die Hierarchie, die den geweihten Priester in eine besondere Machtposition bringt. In der evangelischen Kirche haben wir andere Risikofaktoren. Das bedeutet nicht, dass die katholische Kirche auf die Aufarbeitung ihrer eigenen Risikofaktoren verzichten könnte.

Thomas Großbölting
Bild: ©Lars Berg/KNA

Professor Thomas Großbölting ist Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Universität Hamburg. Als Direktor an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg gehört er zum Forscherteam der "Forum"-Studie zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie.

Frage: Welche besonderen Risikofaktoren gibt es denn in der evangelischen Kirche?

Großbölting: Die kulturell aufgeladene und hochstilisierte Rolle des evangelischen Pfarrhauses als Ideal- und Gegengesellschaft, die besondere Macht des ordinierten Pfarrers und das Selbstbild als bessere Kirche, die demokratischer ist und in der alle gehört werden. Damit werden tatsächliche Machtstrukturen verdeckt. Dass hier in der evangelischen Kirche überhaupt so etwas wie sexualisierte Gewalt möglich ist, konnte man sich intern lange nicht vorstellen. Für Betroffene ist es in diesem vermeintlich hierarchielosen "Milieu der Geschwisterlichkeit" besonders schwierig, ihre Erfahrungen zu thematisieren. Zudem gibt es noch eine theologische Besonderheit.

Frage: Welche?

Großbölting: Die Rechtfertigungslehre. Sie bietet einen besonderen Umgang mit Schuld und Vergebung, in dem die Tat und damit auch der Täter viel stärker im Vordergrund stehen als der Betroffene. Zugleich ist das Ziel der Vergebung fest programmiert. Für Betroffene, die die Versöhnung verweigern, hat diese Erwartung eine schwierige Folge, werden sie doch oft als Störenfriede erlebt. Dieser Harmoniezwang ist ein typisch protestantisches Element, das den Umgang mit sexualisierter Gewalt schwieriger macht.

Frage: Auch in Familien, Vereinen und Sportverbänden werden Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Wird das ausreichend aufgearbeitet?

Großbölting: Seit 2010 sprechen wir bei diesem Thema vor allem über die katholische Kirche. Das ist in gewisser Weise eine Stellvertreterdiskussion. Wir haben uns als Gesellschaft einen Bereich besonders herausgegriffen. Wir erweitern dieses Spektrum jetzt, indem wir auch auf die evangelische Kirche blicken. Wir müssen aber auch die Familien stärker in den Blick nehmen. Denn therapeutische Expertinnen und Experten sagen: Der häufigste Tatkontext ist die Familie.

Frage: Macht der Staat hier zu wenig?

Großbölting: Der Staat hat sich im Bereich der Kirchen einen schlanken Fuß gemacht, indem er den Kirchen die Aufarbeitung weitgehend selbst überlassen hat. Ich glaube nicht, dass sich diese Strategie bewährt hat. Wenn man aus den Erfahrungen seit 2010 lernen will, ist sicher der Staat gefragt, hier mehr zu machen.

Von Bernward Loheide (KNA)