Psychiater war für quantitativen Teil der EKD-Studie zu Missbrauch zuständig

Forscher Dreßing: Diözesen haben bei MHG-Studie besser mitgearbeitet

Veröffentlicht am 27.01.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Brüwer – Lesedauer: 

Hannover/Mannheim ‐ Der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing hat sowohl an der katholischen MHG-, als auch an der evangelischen Forum-Studie mitgearbeitet. Im katholisch.de-Interview erklärt er, warum man die Ergebnisse nicht vergleichen sollte und warum er die Mitarbeit der Landeskirchen so scharf kritisiert.

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1.259 Beschuldigte und 2.174 Betroffene sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche konnten die Forschenden in der Forum-Studie nachweisen. Dabei handelt es sich nach eigenen Angaben nur um "die Spitze der Spitze des Eisbergs". Dass nicht mehr aufgedeckt werden konnte, liegt vor allem an der schleppenden Mitarbeit der Landeskirchen, sagt der forensische Psychiater Harald Dreßing. Er war Projektleiter für den Teilbereich E "Kennzahlen und Umgang – Kennzahlen zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs im Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland und Merkmale des institutionellen Umgangs mit Missbrauchsvorwürfen" der Forum-Studie. Im katholisch.de-Interview verteidigt er die Untersuchung und zieht Parallelen zur MHG-Studie der katholischen Kirche, die 2018 unter seiner Federführung veröffentlicht wurde. 

Frage: Herr Dreßing, Sie haben an beiden Studien mitgewirkt. Was unterscheidet die MHG- von der Forum-Studie?

Dreßing: In unserem Teilprojekt der Forum-Studie haben wir den gleichen methodischen Ansatz gewählt, wie bei der MHG-Studie: Geplant und vertraglich mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vereinbart war eine systematische Analyse von Personalakten, die von Rechercheteams in den jeweiligen Landeskirchen durchzuführen ist. Die katholische Kirche hat dafür teilweise Rechtsanwaltskanzleien oder große Rechercheteams beauftragt, die für diese Aufgabe freigestellt wurden. Wenn diese dann auf Hinweise sexualisierter Gewalt gestoßen sind, haben sie uns diese in anonymisierter Form übermittelt.

Frage: Das hat bei den Landeskirchen nicht funktioniert?

Dreßing: Die Landeskirchen haben schon in einem ersten Teilschritt unsere Fragebögen mit einem schleppenden Tempo beantwortet. Dazu waren die Angaben teilweise qualitativ ungenügend, sodass wir nachfragen mussten. So sind wir in einen zeitlichen Verzug gekommen, der nicht von uns verschuldet war, sondern an der schleppenden Zuarbeit der Landeskirchen lag. Wir standen daher vor der Frage, ob wir hinschmeißen, oder ob es andere rascher verfügbare Quellen gibt, über die wir doch noch möglichst viele Informationen herausholen können. Wir haben uns daher zu einem späteren Zeitpunkt der Studie für die Analyse von Disziplinarakten von Pfarrpersonen entschieden – wohlwissend, dass wir dadurch eine sehr selektive Stichprobe bekommen. Die Personalakten-Analyse, die wir nur in einer evangelischen Landeskirche durchführen konnten, zeigt, dass das eine Methode ist, mit der man sehr viele Fälle ermitteln kann, bei denen es nie zu einem Disziplinarverfahren gekommen ist. Allerdings kann auch eine Personalaktenanalyse niemals das gesamte Ausmaß der sexualisierten Gewalt ermitteln. Unser ursprünglich geplantes und mit der EKD zu Beginn auch vereinbartes methodisches Vorgehen war aber durch den von uns nicht zu verantwortenden zeitlichen Verzug letztlich nicht mehr möglich. Ich bin nicht als unkritischer Fürsprecher der katholischen Kirche bekannt geworden. Aber ich muss sagen: Da haben alle Diözesen deutlich besser mitgearbeitet und waren besser vorbereitet. Ich hatte den Eindruck, dass es bei den Landeskirchen nicht auf Top eins der Prioritätenliste stand.

Frage: Am Donnerstag und Freitag haben einige Landeskirchen verwundert zurückgemeldet, sie hätten alle Personalakten ausgewertet und vorgelegt, was gefordert wurde. Wie passt das zu Ihren Aussagen?

Dreßing: Diese Aussage kann ich leider nicht bestätigen und überrascht mich auch. Bischöfin Kirsten Fehrs hat auf der Pressekonferenz ja fairerweise auch eingeräumt, dass der zeitliche Verzug durch die Landeskirchen bedingt war. Auch Bayerns Landesbischof Christian Kopp hat sich in der "Augsburger Allgemeinen" in diesem Sinne geäußert und eingeräumt, dass man nicht über die erforderlichen personellen Ressourcen verfügt habe, um die Personalakten im gegebenen Zeitraum zu bewältigen. Wenn mit den Aussagen gemeint sein sollte, dass man zum Auffinden der Disziplinarakten in manchen Landeskirchen auch in Personalakten nachsehen musste, ob darin eine Disziplinarakte enthalten ist, dann mag dies zutreffen. Das ist aber natürlich keine systematische Durchsicht der gesamten Personalakten in Hinblick auf einschlägige Hinweise. In jedem Fall können die Landeskirchen ja in naher Zukunft – wenn sie nun doch personelle Ressourcen dazu haben sollten – eine systematische Personalaktenanalyse nachholen. Dann sollte das aber in allen Landeskirchen nach einheitlichen und verbindlichen wissenschaftlichen Standards geschehen.

Frage: Lassen sich die Zahlen, die im Rahmen der MHG-Studie ermittelt wurden und die, die in Ihrem Teilprojekt der Forum-Studie hochgerechnet wurden, vergleichen?

Dreßing: Die Zahlen dürfen Sie nicht vergleichen, weil die Forum-Studie über Pfarrpersonen hinaus auch andere Bedienstete erfasst hat. Die Schätzung nimmt die Quote einer Landeskirche und überträgt sie auf 19 andere Landeskirchen. Die Landeskirchen sind aber so unterschiedlich, dass eine solche Schätzung äußerst limitiert ist. Wenn man diese Limitationen beachtet, kann man aber sagen, dass wir auf eine ähnlich hohe Zahl beschuldigter evangelischer Pfarrer kommen würden, wie katholische Priester in der MHG-Studie.

Frage: In der Pressekonferenz bei der Vorstellung der Studie hieß es bereits, die Zahlen seien die "Spitze der Spitze des Eisbergs". Welche Aussagekraft hat die Studie dann trotzdem?

Dreßing: Die ermittelten Zahlen zeigen auch für sich genommen ein erhebliches, auch quantitatives Ausmaß an sexualisierter Gewalt. Außerdem ist die Tatsache, dass die Personalaktenanalyse nicht wie vereinbart durchgeführt werden konnte, für mich auch ein Befund. Die evangelische Kirche ist mit dem Vorhaben angetreten, noch mehr aufzuklären als die katholische. Mit den uns zur Verfügung gestellten Ressourcen und dem Arbeitstempo ist das letztlich nicht gelungen.

EKD-Missbrauchsstudie
Bild: ©KNA/Daniel Pilar

Hätten für den quantitativen Teil der Forum-Studie auch die Daten aus den Personalakten zur Verfügung gestanden, hätten noch wesentlich mehr Betroffene und Beschuldigte ermittelt werden können, ist Harald Dreßing überzeugt. Aber: "Über die quantitative Analyse in unserem Teilprojekt hinaus liefert die Forum-Studie durch die anderen Teilprojekte ja wichtige qualitative Erkenntnisse."

Frage: Was hätte denn erreicht werden können, wenn Ihnen die Personalakten – wie im Forschungsdesign vorgesehen – zur Verfügung gestellt worden wären?

Dreßing: Wir hätten dann vermutlich eine wesentlich höhere Zahl an Fällen ermitteln können. Das wäre nach meinem Dafürhalten eine wichtige Basis, um überhaupt Aufarbeitungsprozesse zu beginnen. Denn wenn ich aufarbeiten will, muss ich zumindest ein ungefähres Bild davon haben, wie hoch das Ausmaß gewesen ist.

Frage: Befürchten Sie, dass dieser Mangel, dass das Dunkelfeld eben nicht weiter beleuchtet werden konnte, in Zukunft an der Studie haften bleiben wird?

Dreßing: Er wird nicht an der Studie haften bleiben und auch nicht an den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Er bleibt möglicherweise an den Auftraggebern haften, die sich zu etwas verpflichtet und dann nicht das zur Verfügung gestellt haben, was versprochen war. Über die quantitative Analyse in unserem Teilprojekt hinaus liefert die Forum-Studie durch die anderen Teilprojekte ja wichtige qualitative Erkenntnisse.

Frage: Lange Zeit herrschte das Narrativ, das Missbrauchsproblem sei in der evangelischen Kirche nicht so schlimm, wie in der katholischen. Hat sich das nun endgültig erledigt?

Dreßing: Dieses Narrativ war schon vor der Studie nicht haltbar. Denn es ist völlig unplausibel, warum es dieses Problem in der evangelischen Kirche nicht geben sollte. Das Problem ist auch nicht auf die Kirchen beschränkt. Es gibt sexualisierte Gewalt auch in anderen Institutionen, die solche Untersuchungen nicht machen – vermutlich sogar in einem ähnlichen Ausmaß. Um das genauer feststellen zu können, bräuchten wir aber eine national repräsentative Dunkelfeldstudie oder die Bereitschaft anderer Institutionen, sich auch in die Akten schauen zu lassen. Die Kirchen stehen öffentlich unter einem höheren Druck, weil sie sich als Institutionen, die sich insbesondere den Schwachen und Schutzbedürftigen zuwenden wollen, mit einer moralischen Aura umgegeben. Da ist sexualisierte Gewalt besonders gravierend.

Frage: Was sind laut der jetzt vorgelegten Studie die spezifischen evangelischen Probleme, die Missbrauch ermöglicht haben?

Dreßing: Zunächst muss man klarstellen, dass es keine spezifischen Ursachen für den Missbrauch gibt, die in der Institution selbst liegen. Es gibt gewisse Ermöglichungsstrukturen, die in der Tat unterschiedlich sein können. Diese Strukturen sind aber nicht die Ursache, sondern Ermöglichungsstrukturen, die tatgeneigte Menschen missbräuchlich nutzen. Für die evangelische Kirche ist das etwa das Narrativ, die bessere, modernere Kirche zu sein. Das hat ein hohes Anziehungspotenzial für tatgeneigte Menschen, zum Beispiel evangelischer Pfarrer zu werden. Dort ist man in einer Institution, die solche Handlungen wahrscheinlich nicht sehr intensiv verfolgen wird, weil sie tabuisiert sind und gleichzeitig hat man trotzdem eine erhebliche Machtposition Kindern und Jugendlichen gegenüber und vielfältige Begegnungsmöglichkeiten.

„Die Tatsache, dass die Mehrheit der beschuldigten evangelischen Pfarrer verheiratet war, bedeutet aber nicht, dass der Zölibat in der katholischen Kirche keine spezifische Ermöglichungsstruktur ist.“

—  Zitat: Prof. Harald Dreßing

Frage: Was bedeutet die Forum-Studie mit Blick auf die Schlüsse, die nach der MHG-Studie gezogen wurden? Kann man jetzt noch behaupten, der Zölibat sei schuld am Missbrauch in der katholischen Kirche?

Dreßing: Das haben wir so auch nie behauptet. Der Zölibat ist in der katholischen Kirche ein Beispiel für eine spezifische Risikokonstellation, die tatgeneigte Menschen besonders anziehen kann, die dann missbrauchen. Aber er ist natürlich nicht die Ursache für sexualisierte Gewalt. Es gibt unzählige Menschen, die zölibatär leben und niemals Kinder missbrauchen. Die Tatsache, dass die Mehrheit der beschuldigten evangelischen Pfarrer verheiratet war, bedeutet aber nicht, dass der Zölibat in der katholischen Kirche keine spezifische Ermöglichungsstruktur ist.

Frage: Bei der Vorstellung der Forum-Untersuchung hieß es immer wieder, es werde weitere Studien brauchen und auch geben. Droht damit jetzt ähnlich wie in der katholischen Kirche eine Auffächerung, wo jede Landeskirche ihre eigene Studie mit eigenem Schwerpunkt in ihrem eigenen Tempo beauftragt und vorlegt?

Dreßing: Ich würde das differenzierter betrachten. Diese Entwicklung in der katholischen Kirche sehe ich in der Tat kritisch, weil wir mit der MHG-Studie eigentlich eine gute und belastbare empirische Ausgangsbasis haben, die Aufarbeitung grundsätzlich ermöglicht. Das haben wir aufgrund der fehlenden Personalaktenanalyse in der evangelischen Kirche meines Erachtens noch nicht ausreichend, wenngleich die Studie durchaus erste belastbare Ergebnisse erbracht hat. Das bedeutet nicht, dass jede Landeskirche jetzt ihr eigenes Ding machen muss. Wissenschaftlich wäre eigentlich angezeigt, das systematisch für alle Landeskirchen in gleicher Weise zu tun. Das ist auch etwas, das viele Betroffene so formulieren.

Frage: Die katholische Kirche ist spätestens seit der Veröffentlichung der MHG-Studie 2018 damit beschäftigt, Aufarbeitungsmaßnahmen umzusetzen und damit noch lange nicht am Ende. Muss sich die evangelische Kirche auch auf einen jahrzehntelangen Prozess einstellen?

Dreßing: Aufarbeitungsprozesse sind nie in schneller Zeit zu absolvieren. Daran müssen die Institution selbst, die Betroffenen, die Politik, Medien und die interessierte Öffentlichkeit beteiligt werden. Daher dauern Aufarbeitungsprozesse immer lang, insbesondere, wenn sie sehr grundlegende Strukturen oder Selbsteinschätzungen infrage stellen. Um das zu korrigieren bedarf es in der Tat längerer Prozesse der Selbstreflexion und dann einer Änderung auf der Handlungsebene.

Von Christoph Brüwer