David und Jonathan: Über Männer und ihre Beziehungen
Es beginnt mit einer Sprichwort gewordenen Erzählung: Der kleine Hirte David gegen den großen Krieger Goliath. Der Sieg Davids garantiert ihm einen Platz am Hof des israelitischen Königs Saul. Aber auf den jungen Helden wird auch ein anderer aufmerksam, Sauls Sohn Jonathan, der israelitische Erbprinz, die Nummer zwei im Staat.
Die Bibel erzählt, dass Jonathans Selbst sich mit dem Selbst Davids verbindet (man könnte modern von "inniger Seelenverwandtschaft" sprechen) und er David liebt wie sein eigenes Leben (1Sam 18,1-4). Beide schließen einen Bund miteinander. Jonathan entkleidet sich, er legt seine Gewänder, sein Schwert und seinen Bogen ab und gibt alles David. Man kann sich bildlich vorstellen, dass ein verliebter Mann nun nackt und im doppelten Sinne entwaffnet vor einem anderen steht. Ist dies der Beginn einer homosexuellen Beziehung zwischen David und Jonathan?
Ein Gedankenexperiment
Ob man Jonathan und David als homosexuelles Liebespaar versteht, mit Küssen, Kuscheln und Sex, hängt davon ab, unter welcher Perspektive man diese Beziehung betrachtet, und noch mehr davon, was man unter Männlichkeiten und Männerbeziehungen versteht. Ich möchte dem letzten Punkt die Aufmerksamkeit widmen.
Ein Mann sitzt im Café, ein anderer kommt hinzu, beide küssen sich. Sind sie ein homosexuelles Liebespaar? Die meisten Deutschen würden spontan sagen: "Ja." Würde man Franzosen oder Italiener oder andere Mittelmeeranrainer fragen, wäre die Antwort: "Nicht unbedingt." Ich habe nämlich nicht verraten, wie die Männer im Café sich küssen. Wäre es ein Zungenkuss, wäre wohl für jeden ersichtlich, dass es sich um ein Liebespaar handelt. Wäre es ein Küsschen links und rechts auf die Wange, so wäre es ein normales Begrüßungszeichen in bestimmten Ländern und Kulturen.
Aus diesem Gedankenexperiment können wir etwas für die Erzählung von David und Jonathan lernen: Wir erfahren nicht, wie sie sich küssen – und füllen automatisch diese Lücke des "Wie" auf mit unseren vorherrschenden Erwartungen an Männlichkeiten. Gleiches gilt für die Abschiedstränen. Dürfen Männer nur um Frauen weinen, die sie lieben? Dürfen Männer nicht um andere Männer weinen? Derartige Vorstellungen gründen darin, dass in unserer gegenwärtigen Zeit und Kultur Männer keine Emotionen zeigen dürfen, zumindest ist das eine sehr verbreitete Erwartung an "Kerle". Jungs sollen nicht weinen; öffentliches Weinen gilt als unschicklich für "echte Männer". Ob wir David und Jonathan als homosexuelles Liebespaar lesen, hängt daher vor allem mit unseren heutigen (!) Vorstellungen von Männlichkeiten und unserem Verständnis von öffentlich gezeigten Emotionen zusammen.
Nun sind die heutigen Vorstellungen von Männlichkeiten und Geschlechtsidentitäten nicht die einer Kultur von vor mehr als 2500 Jahren. Wir sind geografisch, kulturell und zeitlich sehr weit weg von denjenigen, die uns die biblischen Geschichten hinterlassen haben. Vielleicht haben sie die Küsse, die Tränen und die Trauerworte ganz anders verstanden als wir heute. Während Körperkontakt zwischen Männern bei uns heute als seltsames Männerverhalten gilt – bis auf den festen Händedruck –, war das damals vielleicht völlig akzeptabel für Männerbeziehungen. Vielleicht war es "normal", dass Männer Freundschaften pflegten, in denen ein Kuss wie der feste Händedruck dazugehörten, in denen es selbstverständlich war, auch tränenreich über männliche Freunde zu trauern und sich mit Schmerz voneinander zu trennen. Männerbeziehungen sahen damals mit Sicherheit anders aus als heute. Wir wissen dies aus der uns erhaltenen Literatur, die die Jahrtausende überdauert hat, wie etwa dem Gilgamesch-Epos, in dem der Held Gilgamesch und sein best buddy Enkidu eine innige Männerfreundschaft, eine "bromance" mit vielen Emotionen, Tränen usw. verleben.
Mit zwei Ohren hören
Sind also Jonathan und David ein homosexuelles Liebespaar? Oder handelt es sich bei ihrer Beziehung um eine Männerfreundschaft? Hören wir die Geschichte mit den Ohren eines Israeliten, der in der Antike lebte, so wird er wohl eher eine "bromance" erkannt haben. Seine Vorstellungen von gelungenen Männerbeziehungen treffen sich mit der Beschreibung der Beziehung Davids und Jonathans. Eine solche Männerbeziehung kann durchaus homoerotische Anteile gehabt haben, ohne dass dies als gesellschaftlich inakzeptabel gewertet worden wäre. Beide Männer, David wie Jonathan haben Frau(-en) und Kinder. Heterosexuelle Beziehungen und innige Männerfreundschaften schließen sich nicht aus.
„Welche Beziehungen zwischen Männern gelten im Rahmen welcher Männlichkeitsvorstellung als 'angemessen'?“
Hören wir hingegen von Davids und Jonathans Beziehung mit den Ohren heutiger in Deutschland Lebender, legt sich für uns eine homosexuelle oder homoerotische Beziehung nahe. In unserer heutigen Kultur und Zeit werden derartige Männerbeziehungen wie bei David und Jonathan in der vorherrschenden Ansicht als mit einem heterosexuellen Mann unvereinbar angesehen. Die Konsequenz aus dieser Ansicht ist: Die beiden sind schwul. Gerade das vorherrschende Ideal des heterosexuellen Mannes, der in nicht-innigen Männerfreundschaften lebt, ist heute virulent, denn dieses Ideal hat zur Folge: Gelungene Beziehungen für heterosexuelle Männer gibt es nur mit Frauen. Das kann zu einer Überforderung heterosexueller Paarbeziehungen führen, aber auch zu einer Vereinsamung. Davon sind heutzutage in Deutschland insbesondere Männer betroffen.
Kein Grund zum Aufregen
Die exegetische Fachdebatte darum, ob Jonathan und David eine (heimlich) homosexuelle Liebesbeziehung führten, ist eigentlich eine Scheindebatte. Denn eigentlich dreht sie sich nicht um die Frage der Homosexualität beider Männer, sondern um die Frage danach: Welche Beziehungen zwischen Männern gelten im Rahmen welcher Männlichkeitsvorstellung als "angemessen"? Die Antwort darauf ist simpel: Jede Zeit hat andere Ideale von gelungenen Männerbeziehungen.
Die Diskussion um Davids und Jonathans Beziehung und die Aufregung darüber ist eigentlich eine Auseinandersetzung mit Männerbildern unserer Zeit. Zum Skandal taugt die Geschichte nicht. Aber sie taugt dazu, über skandalöse, weil mitunter schädliche Männerbilder und -ideale unserer Zeit und Kultur nachzudenken.