Kinderschutz-Experte zur Situation fünf Jahre nach Vatikan-Gipfel

Zollner: Missbrauchsprävention ist eine Generationenaufgabe

Veröffentlicht am 21.02.2024 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Rom ‐ Es gebe schon einige Gesetze in der Kirche, die wichtige Linien im Kampf gegen Missbrauch ziehen, sagt der Jesuit und Präventionsexperte Hans Zollner im katholisch.de-Interview. Fünf Jahre nach dem Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan wünscht er sich ein breiteres Bewusstsein für die Problematik.

  • Teilen:

Vor fünf Jahren trafen sich in Rom führende Experten und Kirchenleute, um über die Prävention von Missbrauch zu beraten. Was hat sich seitdem getan? Der Jesuitenpater und Leiter des Anthropologie-Instituts an der Universität Gregoriana in Rom, Hans Zollner, gilt als einer der führenden Fachleute für das Thema. Im Interview blickt er auf Erfolge und Leerstellen fünf Jahre nach dem Gipfel im Vatikan.

Frage: Herr Zollner, vor fünf Jahren war der Kinderschutzgipfel im Vatikan. Was hat sich seitdem verändert?

Zollner: Unmittelbar nach dem Ende dieses Gipfels gab es Veränderungen in den Gesetzen des Vatikanstaates, im Juni wurde dann ein weltweites Gesetz wirksam, bei dem es unter anderem um die Rechenschaftspflicht von Bischöfen geht mit Blick darauf, wie sie bei Anschuldigungen zu Vertuschung oder der Verletzung von Amtspflichten in ihrer Diözese vorgehen. Es muss eine Voruntersuchung geben, und deren Ergebnis muss an das entsprechende Dikasterium (für die deutschen Bischöfe das Bischofsdikasterium) geschickt werden. Dort wird dann entschieden, wie es mit dem Fall weitergeht, also ob es ein Verfahren gibt. Das ist ein wichtiger Schritt, und das war sicherlich auch ein notwendiges Signal.

Frage: Aber?

Zollner: Wir sehen, dass sich mit der Einführung dieses und andere Gesetze nicht unbedingt sofort und überall konsistent die Praxis ändert. In der Kirche gibt es vor allem auch ein Problem mit dem Nachhalten, also mit dem Überprüfen, ob dieses Gesetz angewandt wird und, bei Nichtanwendung, das Aussprechen von Sanktionen. Außerdem braucht es eine neue Haltung zu dem Thema, und da sind wir in vielen Teilen der Welt noch nicht so weit, dass das überall verstanden wird und analog angewandt wird.

Frage: Beim Gipfel hatte Papst Franziskus tatsächlich einen Kulturwandel gefordert und zwei Hauptprobleme genannt: Klerikalismus und Machtmissbrauch. Sind das immer noch die beiden größten Probleme?

Zollner: Weder Klerikalismus noch Machtmissbrauch kann man mit einem Federstrich auslöschen. Allein durch Gesetze zu erwarten, dass sie von heute auf morgen die Wirklichkeit verändern, ist unrealistisch. Der Papst und viele andere haben in den letzten Jahren sehr oft Klerikalismus angeprangert, bei Klerikern und Nicht-Klerikern. Ich glaube, dass es Zeichen für eine allmähliche Mentalitätsveränderung gibt. Aber für eine tiefgreifende Veränderung braucht es einen langen Atem.

„Weder Klerikalismus noch Machtmissbrauch kann man mit einem Federstrich auslöschen.“

—  Zitat: Pater Hans Zollner

Frage: Welche konkreten Zeichen sehen Sie für diese Mentalitätsveränderung?

Zollner: Dazu gehört, wie hohe Würdenträger sich geben, wie sie sich kleiden, welche Symbole sie benutzen, wie sie auftreten. Bei meinem jüngsten Besuch in Indien etwa habe ich Orte besucht, an denen ich zuletzt vor sechs Jahren war. Ich habe das Diskussionsklima jetzt als viel offener erlebt; es gibt nun eine viel aktivere Aufnahmebereitschaft für das Thema. Das spiegelt sich auch darin, dass mehr und mehr Bischöfe und Ordensobere ihre Studierenden zu uns ans Institut für Anthropologie schicken, um sie dort in Safeguarding ausbilden zu lassen. Weiterhin werde ich vermehrt zu Kongressen eingeladen, um über dieses Thema zu sprechen. Viele Teilnehmende sind sehr hellhörig und stellen die richtigen Fragen, wie etwa auch bei dem Fachkongress für die Priesteraus- und fortbildung hier in Rom vor einigen Tagen. Immer mehr Verantwortliche begreifen weltweit die Relevanz des Themas. Dem steht allerdings entgegen, dass Schutzkonzepte und einmalige Workshops nur ein Anfang sein können. An der Nachhaltigkeit fehlt es da oft.

Frage: Was muss denn geschehen, damit sich das ändert?

Zollner: Jesus hat sich mit den Menschen am Rand der Gesellschaft identifiziert. Das sind für uns heute aber nicht nur Obdachlose, Aussätzige und Arme, sondern auch jene, die in der Kirche selbst verwundet und zutiefst verletzt worden sind. Da reicht es nicht, das Thema in eine Stabsstelle abzuschieben. Es muss ein Thema sein, über das man betet, diskutiert und mit den Betroffenen gemeinsam Wege des Kirche-Seins sucht. Für eine sicherere Gesellschaft und Kirche sind alle Getauften in unterschiedlichen Graden mitverantwortlich.

Frage: Aus europäischer Sicht gibt es das Vorurteil, dass man da im globalen Norden weiter ist als im Süden. Wie sehen Sie das?

Zollner: Auch im sogenannten Norden ist das bei Weitem kein Thema, das schon überall angekommen wäre. Sehen Sie nur den weiterhin großen Widerstand in Mittel- und Osteuropa. Auch in Italien versuchen viele Bischöfe weiterhin, dem Thema auszuweichen. Selbst in manchen angelsächsischen Ländern, in denen Missbrauch seit fast 50 Jahren öffentlich diskutiert wird, sind die Schlüsse daraus oft noch nicht im pastoralen Alltag, in der kirchlichen Verwaltung und im Glaubensleben angekommen. Im Gegensatz beobachte ich in einigen Gegenden Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens ein tieferes Bewusstsein für die Relevanz eines umfassenden Safeguarding. Von unseren Studierenden hier in Rom kommen drei Viertel aus afrikanischen und asiatischen Ländern. Das trägt dazu bei, die entsprechende Kompetenz zu entwickeln, sich mit Thema pro-aktiv auseinanderzusetzen.

Außenansicht der Päpstlichen Universität Gregoriana
Bild: ©Fotolia.com/lamio

Das Anthropologie-Institut ist an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom angesiedelt.

Frage: Ist denn der Vatikan in seiner Kommunikation in Sachen Missbrauchsprävention klar genug? Es gab durch diverse Umstrukturierungen immer wieder Unklarheiten, und auch der Papst sorgt mit manchen Äußerungen wie etwa zum Schlagen von Kindern für hochgezogene Augenbrauen.

Zollner: Der Vatikan ist genauso wenig wie die katholische Kirche insgesamt ein monolithischer Block. Die Vorstellung, dass es eine Meinung und ein Vorgehen gäbe, trifft weder auf die Weltkirche noch auf den Vatikan zu. Es gibt auch hier unterschiedliche Geschwindigkeiten und verschiedene Einstellungen bis hin zu derjenigen, die das Thema am liebsten abräumen würde. Allerdings gibt es auch beim Heiligen Stuhl Leute, die sich dafür einsetzen, dass Safeguarding implementiert wird. Das führt zu Widersprüchen und verschiedenen Akzentsetzungen. Insgesamt ist das Bild nicht klar. Aber es gibt auch hier in Rom Verantwortliche, die wirklich etwas verändern wollen.

Frage: Sie bleiben also optimistisch, dass sich nach und nach ein Mentalitätswandel einstellt?

Zollner: Ich bin ein hoffender Realist, magische Lösungen gibt es nicht. Es gibt aber Anzeichen, dass meine Hoffnung nicht auf Sand gebaut ist – vor allem wenn ich zum Beispiel sehe, welche sehr engagierten Leute wir an unserem Institut ausbilden können. Ich sehe mehr und mehr Leute, die sich für das Thema interessieren und es nicht wegschieben; das macht mir Hoffnung auf einen Mentalitätswandel. Aber das wird alles nicht von heute auf morgen passieren, das wäre ein realitätsferner Wunschtraum. Denn wenn wir die gesamte Kirche auf diesen Weg mitnehmen wollen, zu entdecken, dass Safeguarding, sichere Beziehungen und sichere Räume für uns als Kirche ein zentrales Anliegen sind, dann wird das notwendigerweise Zeit, Energie und Geld kosten. Das ist eine Generationenaufgabe, die nicht mit einem Schnellschuss gelöst werden kann.

Frage: Sie sprechen von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten und anderen Schwierigkeiten, obwohl das Thema schon mehrere Jahrzehnte auf dem kirchlichen Tableau liegt. Hand aufs Herz: Wie viel Frustration spüren sie angesichts dessen manchmal?

Zollner: Natürlich macht es mich sprachlos, wenn Bischöfe trotz besseren Wissens sagen, dass es Missbrauch in ihren Diözesen nicht gegeben habe. Wie gesagt, die Zahl derjenigen, die das rundweg leugnen, nimmt ab. Was mich sehr beunruhigt, sind die nach wie vor gängigen Ausbildungsprozesse für Priesterkandidaten und Ordensleute weltweit, in denen nicht das umgesetzt wird, was von „Rom“ vorgeschrieben ist. Auch hier haben wir das Problem, dass es nicht wirklich überprüft und sanktioniert wird.

Frage: Was muss die Kirche denn noch tun?

Zollner: Wir haben Gesetze und Regelungen, die die wichtigen Linien ziehen, auch wenn es weiterhin viel Nachholbedarf vor allem in der Betroffenensensibilität gibt. Gesamtkirchlich braucht es ein konsequentes Monitoring, wie die Normen, Auflagen und Ausbildungsvorgaben umgesetzt werden, und entsprechende empfindliche Sanktionen. Dabei kommt es auf die Entscheider an: Bischöfe, Ordensobere, Kindergarten- und Schulleiterinnen, Leitende in Pfarreien, Universitäten, Flüchtlingsarbeit und Caritas. Jede und jeder kann etwas für ihren und seinen Bereich beitragen. Es geht um die große Richtung für die gesamte Kirche, für die die Einzelnen im je persönlichen und professionellen Umfeld durch ihre Haltungen mitverantwortlich zeichnen. Es gibt immer Probleme und Fehlstellen, denen muss sich jede und jeder stellen. Wenn wir alle unsere jeweilige Verantwortung ernst nehmen, wird sich die Kirche als Ganzes verändern.

Von Christoph Paul Hartmann