Altbischof Nowak: Ich glaube fest daran, dass alles gut werden wird
Am 17. März 1929 – also vor 95 Jahren – wurde Leo Nowak in Magdeburg geboren. Im großen Geburtstagsinterview von katholisch.de blickt der ehemalige Bischof von Magdeburg auf sein Leben in vier deutschen Staaten – der Weimarer Republik, dem NS-Regime, der DDR und der Bundesrepublik – und sein Wirken als Priester und Bischof zurück. Außerdem spricht er über die aktuelle Lage der katholischen Kirche, Reformforderungen wie die Abschaffung des Zölibats und das eigene Lebensende.
Frage: Bischof Nowak, an diesem Sonntag werden Sie 95 Jahre alt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diesen besonderen Tag?
Nowak: Mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite bin ich natürlich dankbar, dass ich diesen Geburtstag erleben darf – und das noch dazu in einer einigermaßen guten körperlichen Verfassung. Ich kann meinen Alltag immer noch weitgehend allein gestalten und noch das eine oder andere tun. Das ist schon ein halbes Wunder! Auf der anderen Seite gibt es einige altersbedingte Beschwernisse, die nicht so schön sind. Manchmal frage ich mich deshalb schon, was der tiefere Sinn dahinter ist, so alt zu werden.
Frage: Menschen, die Sie näher kennen, sagen allerdings, Sie seien für Ihr Alter topfit.
Nowak: Topfit würde ich nicht sagen – fit trifft es eher. Natürlich zeigen sich jeden Tag manche körperlichen Mängel, aber im Vergleich mit anderen in meinem Alter bin ich tatsächlich gesegnet. Manchmal sagen mir Menschen, ich sähe zehn Jahre jünger aus – da fühle ich mich schon geschmeichelt.
Frage: Blicken wir auf den Beginn Ihres Lebens. Sie wurden in der Endphase der Weimarer Republik geboren und sind im Nationalsozialismus aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Nowak: Ich habe die Zeit des Nationalsozialismus vor allem als Hitlerjunge erlebt. Man hatte damals gar keine andere Wahl, als dort mitzumachen. Wer sich weigerte, wurde bestraft. Aus dieser Zeit sitzt mir vor allem noch der Ausspruch "Führer befiehl, wir folgen Dir" in den Knochen. Auch wenn es heute unvorstellbar ist: Diesen Spruch haben wir damals ganz selbstverständlich gesagt und ernst gemeint. Die große Mehrheit der Deutschen hat Hitler verehrt und zugejubelt. Die schreckliche Folge davon ist bekannt.
Frage: In Ihre Jugendzeit fiel der Zweite Weltkrieg, am Ende des Krieges waren Sie 16 Jahre alt. Wie haben Sie den Krieg erlebt und überlebt?
Nowak: Um in den letzten Kriegstagen noch für den sogenannten Volkssturm eingezogen zu werden, war ich Gott sei Dank noch zu jung. Ich war im Krieg aber bei der Feuerwehr aktiv und habe deshalb nach Fliegerangriffen mehrmals bei Löscharbeiten geholfen. Die verkohlten Leichen, die ich dabei gesehen habe, haben mich bis in meine Träume verfolgt. Das war schrecklich! Ansonsten haben meine Familie und ich den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden. Wir lebten damals im Südwesten von Magdeburg, wo wir von größeren Bombenangriffen Gott sei Dank verschont geblieben sind.
Frage: Unmittelbar nach dem Krieg begann die russische Besatzungszeit. Wie war das für Sie?
Nowak: Ich wurde damals, wie viele andere auch, dienstverpflichtet. Wir mussten von früh bis spät an Eisenbahnschienen rund um Magdeburg den Schotter ausgraben und auf Züge verladen, die dann als Reparationsleistung nach Russland fuhren. Während der Arbeit wurden wir die ganze Zeit von russischen Soldaten bewacht, die uns immer antrieben. "Dawai, dawai", das klingt mir heute noch in den Ohren.
„Mit der Priesterweihe verbinde ich durchaus gemischte Gefühle. Nicht mit der Weihe an sich, sondern mit der Tatsache, dass jetzt ein neuer Abschnitt meines Lebens begann.“
Frage: Bald danach haben Sie eine kaufmännische Lehre absolviert und von 1948 bis 1950 eine Fachschule für Industrie und Handel besucht. Wie kam es dazu, dass Sie sich danach doch noch für einen geistlichen Werdegang entschieden haben?
Nowak: Die Lehre habe ich vor allem gemacht, weil meine Eltern damals ein Geschäft mit Herrenartikeln hatten und vor allem mein Vater davon ausging, dass ich das Geschäft eines Tages übernehmen würde. Und die Fachschule habe ich besucht, weil ich unbedingt noch mein Abitur nachholen wollte, das ich unmittelbar nach dem Krieg wegen des Lehrermangels nicht hatte machen können. Dass ich dann Theologie studiert habe, um Priester zu werden, hatte mehrere Gründe. Zum einen war ich stark in der katholischen Jugend engagiert und hatte dort Vikare erlebt, die mich stark beeindruckt hatten. Zum anderen konnte ich mir einfach nicht vorstellen, mein ganzes Leben hinter einem Ladentisch zu stehen und Knöpfe und Hüte zu verkaufen (lacht). Vor allem aber wollte ich dazu beitragen, dass die braune Ideologie nicht durch eine rote abgelöst wird. Die befreiende Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus vom Leben in Fülle zu verkünden und Hoffnung zu stiften, das war mir wichtig.
Frage: Sie haben in Paderborn und Erfurt Theologie studiert – also auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze, die damals allerdings noch einigermaßen offen war. War das unproblematisch?
Nowak: Überhaupt nicht. Wir Ossis mussten in Paderborn studieren, weil es zu dem Zeitpunkt noch keine katholische Ausbildungsstätte in der DDR gab. Allerdings wurden uns von der SED-Regierung alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt. Um überhaupt ausreisen zu dürfen, mussten wir erst zu einem vorgegebenen Termin nach Ost-Berlin fahren, um von dort aus über den Bahnhof Friedrichstraße in den Westen zu reisen. Dort angekommen mussten wir unsere DDR-Pässe abgeben und bekamen westdeutsche Pässe. Wir waren nun also Bundesbürger und konnten schließlich in Paderborn unser Studium aufnehmen. Völlig unklar war aber, ob wir jemals in die DDR zurückkehren konnten. Das änderte sich erst, als das Priesterseminar in Erfurt eröffnet wurde. Der damalige Magdeburger Weihbischof Friedrich Maria Rintelen ist nach Paderborn gekommen und hat uns Ossis geradezu bekniet, nach Erfurt zu wechseln, was die meisten von uns dann auch getan haben. Schließlich war die DDR unsere Heimat.
Frage: Weihbischof Rintelen hat Sie am 10. Mai 1956 auch zum Priester geweiht. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?
Nowak: Mit der Priesterweihe verbinde ich durchaus gemischte Gefühle. Nicht mit der Weihe an sich, sondern mit der Tatsache, dass jetzt ein neuer Abschnitt meines Lebens begann. Würde ich den anstehenden Aufgaben gerecht werden? Gespannt warteten wir sogenannten Neupriester auf die Bekanntgabe der Gemeinden, in denen wir als Vikare unseren Dienst beginnen sollten. Meine erste Stelle war Seehausen/Altmark. Eine typische Diasporagemeinde. 1.500 Katholiken aufgrund der Vertreibung verteilt auf 40 Dörfer. Für die notwendigen Fahrten wurde mir ein altes Moped zur Verfügung gestellt. Als ich den ersten Fahrversuch machte, kam ich bis zur nächsten Bahnschranke. Beim Anhalten gab es einen lauten Knall und mein Moped gab "seinen Geist" auf.
Frage: Mit der Station in Seehausen begann für Sie eine fast 20 Jahre andauernde Phase als Priester in der sachsen-anhaltischen Provinz. Wie war diese Zeit für Sie?
Nowak: Sie hat mich sicher geprägt und mir bei meinen späteren Aufgaben als Seelsorgeamtsleiter und dann als Bischof auch geholfen. Ich bin wohl einer von ganz wenigen Bischöfen in Deutschland, die vorher so lange als Priester in der Gemeindearbeit tätig waren. Ich habe dadurch sehr viel über das praktische Leben und die Situation von Pfarrern und Pfarrgemeinden erfahren.
Frage: Die DDR war ein Staat, der Glaube und Kirche aus ideologischen Gründen ablehnend gegenüberstand und Christen drangsalierte. Wie haben Sie als Priester diesen Staat erlebt? Haben Sie selbst Repressionen erfahren?
Nowak: Das Leben in der DDR war für viele Menschen, die dem Staat kritisch gegenüberstanden, beschwerlich. Das galt auch für die Christen und für die Kirchen. Man hatte ständig mit irgendwelchen Widrigkeiten zu kämpfen. Ich habe das auch oft genug erlebt. Schlimm war es zum Beispiel, wenn wir als Kirche Räume anmieten oder selbst bauen wollten. Das wurde von den Behörden nie genehmigt. Mit solchen Nadelstichen versuchte man, uns mürbe zu machen.
Frage: Sicher gibt es über Sie auch eine Stasi-Akte. Haben Sie sich die nach der Wiedervereinigung angeschaut?
Nowak: Nein, das wollte ich nicht. Möglicherweise hätte ich in der Akte Dinge gelesen, die ich lieber nicht erfahren wollte. Ich wollte mich mit diesem Thema nach 1990 nicht belasten.
Frage: Stichwort 1990: Mitten hinein in die Zeit der Wende wurden Sie von Papst Johannes Paul II. mit immerhin schon 60 Jahren zum Bischof und Apostolischen Administrator in Magdeburg ernannt und kurz danach geweiht. Wie war das, in dieser so spannenden Zeit das Leitungsamt in Magdeburg zu übernehmen?
Nowak: Das war in der Tat eine große Herausforderung – die ich damals aber gerne angenommen habe. Es herrschte zu der Zeit ja eine riesengroße Euphorie, und auch für die Kirche eröffneten sich viele neue Möglichkeiten. Allerdings musste in kurzer Zeit auch sehr viel geregelt werden. Die Einführung der Kirchensteuer, der Religionsunterricht an den Schulen, die Militärseelsorge, außerdem der Aufbau eines kirchlichen Verwaltungsapparats – das meiste davon war für uns neu und ungewohnt. Was war zu tun? Was zu lassen? Oftmals blieb keine Zeit für intensive Überlegungen. Hinzu kamen die Probleme mit einzelnen Priestern und Mitarbeitern, die durch die Zusammenarbeit mit der Stasi belastet waren.
Frage: In Ihre Amtszeit als Bischof fiel 1994 auch die Entscheidung, ein eigenständiges Bistum Magdeburg zu errichten. Zuvor hatte das heutige Bistumsgebiet zum Erzbistum Paderborn gehört. War die Entscheidung rückblickend richtig?
Nowak: Meiner Meinung nach Ja! Vor allem aus zwei Gründen: Zum einen unterscheidet sich unser Bistumsgebiet durch die absolute Diasporasituation erheblich vom katholisch geprägten Westfalen. Das Verständnis für die hiesigen Verhältnisse war nach 40 Jahren Teilung in Paderborn kaum noch vorhanden. Zum anderen gab es auch ein geografisches Problem: Zwischen dem Erzbistum Paderborn und unserem Bistumsgebiet liegen ungefähr 160 Kilometer Bistum Hildesheim. Diese räumliche Trennung und die daraus resultierenden großen Entfernungen hätten uns, wären wir bei Paderborn geblieben, immer Schwierigkeiten verursacht. Vor allem aber hatten wir schon 40 Jahre hindurch in der DDR als eigenes Bistum existiert.
Frage: Trotzdem ist 1994 ein Bistum entstanden, das schon damals nur rund 200.000 Katholiken hatte – und heute durch die vielen Austritte der vergangenen Jahre sogar nur noch gut 73.000 Gläubige zählt. Gehen Sie trotz dieser Entwicklung davon aus, dass das Bistum Magdeburg auf Dauer bestehen bleiben wird?
Nowak: Das wird man sehen. Allerdings lehrt die Kirchengeschichte, dass ein Bistum, das einmal errichtet wurde, in der Regel auch bestehen bleibt. Außerdem darf darauf hingewiesen werden, dass es nicht wenige noch kleinere Bistümer auf der weiten Welt gibt. Wenn nicht alles täuscht, ist die Diasporasituation einfach die Realität und die Zukunft.
„Wir leben heute nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert, das andere Antworten erfordert als frühere Zeiten. Deshalb sollte man genau schauen, welche Regeln und Traditionen der Kirche es wert sind, bewahrt zu werden und welche nicht.“
Frage: Sind Sie froh, heute nicht mehr in der Verantwortung zu stehen und Antworten auf diese Fragen finden zu müssen?
Nowak: Das kann ich so nicht pauschal sagen. Ich gehe aber davon aus, wäre ich noch im Amt, würde der liebe Gott schon dafür sorgen, dass ich die heutigen Herausforderungen einigermaßen gut bewältigen würde.
Frage: Bedauern Sie manchmal Ihren Nachfolger Gerhard Feige? Schließlich muss er tatsächlich mit den aktuellen Herausforderungen umgehen und Lösungen finden, um die Kirche von Magdeburg am Leben zu halten.
Nowak: Ich bedauere Bischof Gerhard nicht, sondern staune eher darüber, wie er versucht, den Herausforderungen unserer Zeit zu entsprechen. Erst kürzlich hat er klar und deutlich seine Einschätzung zur AfD abgegeben. Sie zeigt, wie sehr er bemüht ist, auch in der Öffentlichkeit "Farbe zu bekennen". Dass die Situation der Kirche und der Gesellschaft ihm Sorge bereitet, ist zu verstehen. Ich bin dankbar, dass er mein Nachfolger ist.
Frage: Haben Sie nach Ihrer Emeritierung eigentlich leicht loslassen können oder ist Ihnen der Abschied von der bischöflichen Macht damals schwergefallen?
Nowak: Ich gebe zu, das war nicht immer leicht für mich. Aber so ist es nun mal: Mit der Emeritierung ist man weg vom Fenster und das muss man akzeptieren und klare Grenzen ziehen.
Frage: Die Kirche in Deutschland steckt seit Jahren in einer tiefen Krise, die nach Meinung vieler Menschen nur durch umfassende Reformen überwunden werden kann. Wie groß schätzen Sie den Reformbedarf in der Kirche ein?
Nowak: Ich denke, dass es wichtig ist, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Wir leben heute nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert, das andere Antworten erfordert als frühere Zeiten. Deshalb sollte man genau schauen, welche Regeln und Traditionen der Kirche es wert sind, bewahrt zu werden und welche nicht. Für mich steht außer Frage, dass es Reformen braucht, und ich würde mir manchmal wünschen, dass es damit schneller voranginge.
Frage: Können Sie ein Beispiel nennen, was Ihrer Ansicht nach unbedingt angegangen werden sollte?
Nowak: Zum Beispiel die Frage des Amtes in der Kirche. Wir sind es in der katholischen Kirche gewohnt, Ämter und Aufgaben vor allem geweihten Amtsträgern zu übertragen. Die große Mehrheit der Katholiken sind dagegen nur passive Konsumenten. Das wird angesichts des zunehmenden Priestermangels auf Dauer aber nicht mehr funktionieren. Wir müssen die Aufgaben in der Kirche deshalb auf viel mehr Schultern verteilen und die Laien stärker einbinden.
Frage: Was halten Sie von Forderungen wie der Abschaffung des verpflichtenden Zölibats oder der Weihe von Frauen zu Priesterinnen?
Nowak: Es geht, wie in der Frage deutlich ist, nicht um Abschaffung des Zölibats, sondern um die Änderung der Verpflichtung zum Zölibat. Nach neutestamentlichem Befund ist die Ehelosigkeit ein Rat. Diesen Ratschlag dürfen wir nicht ausschlagen. Vornehmlich sind da die Ordensgemeinschaften gefragt. Für die Berufung zum priesterlichen Dienst sollten nicht zuerst die Frage nach dem Geschlecht oder der Ehe stehen. Die Freude am Evangelium, die Liebe zu Gott, zum Nächsten und sich selbst sind die Bedingungen, die nicht hoch genug eingeschätzt werden können.
Frage: Sie sind mittlerweile seit 20 Jahren emeritiert. Wie sieht heute Ihr Alltag aus?
Nowak: Feste Aufgaben habe ich heute keine mehr, aber ich übernehme immer noch gelegentlich Gottesdienste, halte kleine Vorträge oder führe Gespräche – am liebsten übrigens mit Menschen, die selbst nicht unbedingt gläubig sind. Mit solchen Menschen über die großen Fragen des Lebens zu sprechen, macht mir Freude.
Frage: Viele Menschen klagen im Alter über Einsamkeit. Ist das bei Ihnen auch so?
Nowak: Nein, unter Einsamkeit leide ich nicht. Ich habe Gott sei Dank immer noch viele Kontakte, die mir guttun. Und ich bin immer noch gerne unter Menschen.
Frage: Sie werden nun 95 Jahre alt – ein Alter, in dem man sich wohl zwangsläufig mit dem Ende des eigenen Lebens auseinandersetzen muss. Wie blicken Sie auf dieses Ende? Haben Sie Angst davor?
Nowak: Angst nicht, aber die Unsicherheit mit Blick auf das eigene Lebensende ist mit zunehmendem Alter größer geworden. Ich versuche trotzdem, dem Tod mit großem Vertrauen entgegenzugehen. Ich weiß zwar nicht, was mich auf der anderen Seite, die wir meist Himmel nennen, erwartet. Aber ich glaube fest daran, dass alles gut werden wird.