Wie Religion eine bessere Gesellschaft schaffen kann
Vor der hinduistischen Gottheit Ramdev Pir, einem Mann mit Vollbart und seinem Pferd - beide in leuchtend roter Festkleidung –, bauen Freikirchen-Pastoren gemeinsam mit Imamen einen Kreis aus Plastikstühlen auf. Obwohl das Treffen in einem Hindu-Tempel stattfindet, ist dieses Mal kein Hindu dabei – keine Zeit. Schließlich hatten viele Teilnehmende eine lange Anreise, denn hier treffen sich Religionsvertreter der gesamten Region um die kenianische Hafenstadt Mombasa. Sie arbeiten am gemeinsamen Frieden und haben mittlerweile ein zivilgesellschaftliches Netzwerk aufgebaut.
Das "Coast Interfaith Council of Clerics" (CICC, Interreligiöser Klerikerrat der Küste) gibt es seit 1997 und entstand aus einer Gewalterfahrung heraus. Nach den Wahlen 1992 war es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Das hatte verschiedene Gründe. Einer davon ist, dass Politik in einigen afrikanischen Ländern anders funktioniert als in Europa. So haben sich Parteien in Kenia nicht durch konkurrierende politische Programme entwickelt, sondern entlang ethnischer Grenzen. In Kenia gibt es mehr als 40 Ethnien. In den 1990er Jahren setzten Kandidaten bei Wahlen auf ethnische Loyalitäten – gemeinsam mit einem für sie günstigen Zuschnitt der Wahlkreise und Manipulation. So kam es in dieser Zeit vermehrt zu Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, auch relativ prominent in Mombasas Viertel Likoni.
"Wir haben hier ethnische Konflikte, politische und religiöse. Wir sind als religiöse Führer zusammengekommen und haben gemerkt, dass nur wir diese Konflikte lösen können", sagt CICC-Generalsekretär Joseph Kamau Ndiritu, Pastor der Pfingstkirche "Christian Outreach Ministries", ein großer Mann im blauen Hemd und mit kräftiger Stimme – man hört ihm den Prediger an. Denn religiös sind die Verhältnisse andere: 85 Prozent der Menschen in Kenia sind Christen verschiedenster Couleur, dazu kommt mit etwa zehn Prozent eine kleine, aber sichtbare islamische Minderheit. In Städten wie Mombasa ist sie besonders leicht zu erkennen, denn dort ist das historische Zentrum das muslimische Viertel. Muslime, das sind in Kenia aber auch die Terroristen der al-Shabaab-Miliz aus dem Nachbarland Somalia, die immer wieder für Anschläge sorgen und deshalb lange ein konstantes Misstrauen zwischen den Religionsgemeinschaften aufrechterhielten. Es gab also gleich mehrere Baustellen. Deshalb geht es um Verständigung, sagt CICC-Berater Stephen Njuguna: "Wir nutzen die Kraft des Intrareligiösen Dialogs und des Interreligiösen Dialogs, um hier in der Küstenregion Kenias den Frieden zu fördern." Der Gedanke dahinter: Die Religion sei die einzige Kraft, die Menschen über Ethnien hinweg verbinde. "In der Kirche oder Moschee gibt es keine ethnischen Unterschiede – also können auch nur Kirche und Moschee die Spaltungen heilen", sagt Kamau.
So bildete sich das CICC als Zusammenschluss religiöser Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen Religionen. Nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001, die auch in Kenia für vermehrte Spannungen zwischen den Religionen sorgten, wurde das CICC von einem lockeren Bündnis zu einer Stiftung, getragen von der katholischen Kirche, dem Imamenverband, dem Zentralrat der Muslime, dem Rat der Kirchen, der Evangelischen Allianz, der Organisationen afrikanischer Kirchen, dem Hindu-Rat sowie der Dachorganisation der afrikanischen Traditionsreligionen. Das Gremium trifft sich jedes Mal in den Räumlichkeiten einer anderen Religionsgemeinschaft. Mit der Zeit haben sich immer mehr Ortsgruppen in der gesamten Region gebildet. "Wir tauschen uns aus, wir besuchen uns gegenseitig, in Tempeln und Moscheen, wir lernen gegenseitig unsere Riten und Gebete kennen", so Kamau. "Denn wenn man sich gegenseitig nicht versteht, kommt es schnell zu Konflikten. Das lässt sich verhindern, wenn man zusammenkommt und sich gegenseitig versteht."
Textarbeit zwischen den Religionen
Dabei ist auch viel Textarbeit gefragt, erklärt der Generalsekretär. "Radikalisierung entsteht durch eine Interpretation religiöser Schriften. Also setzen wir uns als religiöse Führer zusammen und schauen uns die entsprechenden Schriftstellen an, meditieren darüber. Es geht uns dabei auch immer um das Gesamtnarrativ." Zu leicht sei es sonst für Manche, einzelne Schriftstellen aus dem Zusammenhang zu reißen und fehlzuinterpretieren. Diese Taktik helfe auch gegen Radikalisierungsversuche etwa von al-Shabaab. "Al-Shabaab will einen Keil zwischen die Religionen treiben", sagt er. "Aber wenn sie uns sehen, dann wissen sie schon, dass sich da etwas geändert hat." Deswegen veranstalte man auch Workshops mit den Gemeinden, etwa gegenseitige Besuche von Christen und Muslimen im Gotteshaus der jeweils anderen. Hier komme der Einfluss der religiösen Führer auf die Gläubigen zum Tragen, sagt Kamau. "Wenn wir gespalten sind, sind auch sie gespalten. Aber wenn wir vereint sind, sind auch sie vereint." Das hat funktioniert: Es ist mittlerweile sehr ruhig geworden in Mombasa, bei eventuellen Meinungsverschiedenheiten kontaktieren sich Vertreter der Religionen direkt und versuchen, sich gegenseitig zu verstehen. "Wenn jetzt al-Shabaab kommt, sind die Leute für deren Argumente gerüstet."
Die gemeinsame Verständigung läuft beim CICC zweigleisig. Da ist einmal der Interreligiöse Dialog, es geht aber auch um die Verständigung innerhalb einzelner Religionsgemeinschaften. Denn auch, wenn sich 85 Prozent der Kenianerinnen und Kenianer als Christen bezeichnen, ist das keine einheitliche Gruppe. Neben den größeren Kirchen wie der anglikanischen (als Erbe der britischen Kolonialzeit) und der katholischen haben sich zahlreiche kleine Freikirchen etabliert, die besonders an den Ausfallstraßen der Stadt auffallen. Gerade in den vergangenen Jahren ist die Zahl der charismatischen Gemeinschaften gewachsen. Es gibt also viel zu besprechen. "Religion kann verbinden, sie kann aber auch trennen", formuliert es Kamau.
Doch beim religiösen Austausch ist das Gremium nicht stehen geblieben. Recht schnell ging und geht es darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Ganzes zu stärken. Dafür seien die Religionen prädestiniert, sagt Kamau. "Wie wir als Religionen zusammenkommen, wollen wir auch als Ethnien zusammenkommen, Mehrheiten und Minderheit. Wenn die Politik Menschen gegeneinander aufbringen will, setzen wir uns zusammen und versuchen einander zu verstehen."
Religion als zivilgesellschaftliche Kraft
Wer den Religionsführern zuhört bemerkt bald, dass sich hier nach und nach eine zivilgesellschaftliche Plattform etabliert hat. Denn die Probleme der kenianischen Gesellschaft liegen auf der Hand: Armut, die Folgen des Klimawandels, Zukunftsperspektiven für die nächste Generation, ein Spannungsverhältnis zwischen dem Leben in der Metropole und der Herkunft vom agrarisch geprägten Land. Folglich kümmert sich das CICC unter anderem um ganz handfeste Probleme wie die Müllentsorgung, die Reinigung von Stränden, aber auch Wahlen. So waren Religionsführer bei den Wahlen 2022 als Beobachter dabei – "die Wahl war sehr friedlich", sagt Kamau mit einem Lächeln. Man schaue der Politik auf die Finger: "Wir wollen die Gesetze sehen. Vielleicht sind sie schädlich für die Gemeinschaft – und wir sind die Augen der Gemeinschaft." Dass das in Kenia ein Thema für Religionsgemeinschaften ist, wundert nicht: In dem ostafrikanischen Land ist Religion omnipräsent. In Hotels läuft während des Frühstücks fromme Musik, auf Kleinbusse werden Bibelsprüche aufgemalt, oft beginnt eine Zusammenkunft mit einem gemeinsamen Gebet. Bücherstände auf der Straße bestehen häufig zu einem großen Teil aus spiritueller Literatur. Der Glaube ist in Kenia ein Thema, das den ganzen Alltag begleitet. Deshalb spielen Religionsführer und ihre Gemeinden eine gesellschaftsbestimmende Rolle – auch, wenn es um Politik oder soziale Probleme wie Drogenabhängigkeit oder Missbrauch geht.
Soziale Probleme stehen im Mittelpunkt der Arbeit der Frauengruppe des CICC, die sich gemeinsam mit einer Jugendabteilung 2017 bildete. Denn Probleme in der Familie gebe es immer wieder. Darüber werde in der Frauengruppe gesprochen, auch wenn es nicht direkt zum Thema gemacht werde, sagt Gruppenmitglied Asya Hussein, eine zurückhaltende Frau in dunkelblauem Kleid und Hidschab: "Wir machen ganz unterschiedliche Sachen zusammen, etwa Kochen oder gemeinsam Reinigungsmittel herstellen, damit verdienen wir Geld. Dabei können viele Frauen ihre Probleme vergessen. Manche öffnen sich aber auch und erzählen von ihren Problemen: Sie sind alleinerziehend oder wurden von ihrem Mann verlassen." Dabei merkten viele Frauen, dass sie nicht allein sind. "Wir haben viele solcher Fälle." Dann gehe es schnell darum, Lösungen zu finden: Wie man die Kinder zu besseren Menschen oder den Ehemann nach Hause zurückholen könne. Dabei profitierten die Frauen gegenseitig von den Erfahrungen der anderen. Man arbeite aber auch mit den Behörden zusammen, sagt Alice Malanga, die ein bunt gemustertes Kleid mit dazu passender Mütze trägt und entschieden ausführt: "Wir empowern die Frauen, auch wenn es zu Gewalt in der Familie kommt. Dass sie zum Beispiel zur Polizei gehen sollen." Man versuche allerdings, Gewalt möglichst vorzubeugen, etwa durch Tipps für gute Familien- und Eheführung. Man arbeite aber auch mit den Männern zusammen, setzt sie auf Nachfrage hinzu. Kamau fügt hinzu: "Der Hauptgrund für Gewalt in der Familie ist Armut." Deshalb gehe es auch darum, den Frauen eine Möglichkeit zum eigenen Gelderwerb zu ermöglichen. "Wenn sie auch Geld verdienen und ihre Männer unterstützen, gibt es auch weniger Konflikte."
So ist nach und nach ein soziales Netzwerk entstanden, das nicht nur einzelne Religionen miteinander vernetzt, sondern auch Nachbarschaften. Es ist ein ziviles Gegengewicht zur Amtspolitik. Doch nicht immer funktionieren die Initiativen des Bündnisses, was auch ein Schlaglicht auf die wirft, die nicht mitmachen. Denn nicht jeder hat ein Interesse an Dialog und Austausch. Besonderes Aufsehen erregte zuletzt die "Hungersekte" des Predigers Paul Mackenzie. Der ehemalige Taxifahrer gründete in den 2000er Jahren die "Good News International Church" als eine der vielen neuen Freikirchen. Mit der Zeit radikalisierte er sich, bis er sich mit seinen Anhängern 2019 in den Wald zurückzog. Dort stiftete er sie an, sich zu Tode zu hungern, um bald Jesus zu begegnen. Es scheint aber auch zu Mordfällen gekommen zu sein. Mittlerweile wurden mehr als 400 Leichen in dem Wald gefunden, Mackenzie steht vor Gericht. Das Geschehen spielte sich in der Gegend um Malindi, etwa 100 Kilometer von Mombasa entfernt, ab. "Uns war Mackenzie schon aufgefallen, als er noch jung war", sagt Njuguna. Damals habe er Kindern schon empfohlen, weder in die Schule noch ins Krankenhaus zu gehen. "Wir meldeten das den Behörden, daraufhin ist aber leider nichts passiert." Es gebe viele religiöse Führer auf einem sehr großen Gebiet – und das CICC habe sehr begrenzte Mittel.
Extreme charismatische Vereinigungen wie die Kirche Mackenzies zeigen kein Interesse an Dialog, sie werden auf längere Sicht wohl kaum zu einem Treffen im Tempel dazu kommen und gemeinsam mit anderen Religionsvertretern über Schriftverse meditieren wollen. Am Ende des Treffens werden im Ramdev Pir-Tempel die Stühle wieder zusammengeräumt, zwei Vertreterinnen der Frauengruppe wuchten sich Bündel mit den übrig gebliebenen Wasserflaschen über die Schulter. Für heute gehen die Vertreter der Religionsgemeinschaften wieder ihrer Wege. Ihre Arbeit ist aber noch nicht vorbei: Mit dem Aufschwung der Freikirchen auch in Kenia ist ein neues religiöses Feld entstanden, das für den Dialog und die gemeinsame Friedensvorsorge gewonnen werden muss.