Selbstverständnis, Schuld, Vergebung und Umgang mit Tätern auf der Agenda

Slenczka: EKD-Missbrauchsstudie gibt Theologie Aufgaben auf

Veröffentlicht am 12.03.2024 um 11:29 Uhr – Lesedauer: 

Berlin/Freiburg ‐ Die ForuM-Studie hat spezifisch evangelische Risikofaktoren von Missbrauch analysiert. Für den Berliner Theologen Notger Slenczka erwachsen daraus Aufgaben für die theologische Reflexion – auch solche, die unpopulär und unangenehm sind.

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Der evangelische Theologe Notger Slenczka sieht durch die ForuM-Missbrauchsstudie theologischen Forschungsbedarf. Die Erkenntnisse über Missbrauch in der evangelischen Kirche müssten mit Blick auf das Amts- und Religionsverständnis, das Verhältnis von Schuld und Vergebung und den Umgang mit Tätern reflektiert werden, schreibt der Berliner Professor für systematische Theologie in einem Beitrag für "Communio" (Dienstag). "Man wird fragen müssen, wie die in den reformatorischen Kirchen verbreitete theoretische Einsicht, dass Religion Selbstständigkeit im Verhältnis zu Gott und nicht Abhängigkeit von Geistlichen bedeutet, in ein (Selbst-)Verständnis der Geistlichen ebenso wie der Gemeindeglieder und in kirchliches Handeln umzusetzen ist", so Slenczka. Diese Einsicht müsse sich in eine gemeindliche Sicht und ein Selbstverständnis der Geistlichen und ihrer Aufgaben übersetzen lassen, die in der Hinführung zur Selbstständigkeit bestehen müsse.

Darin liege aber eine besondere Herausforderung, da Selbständigkeit Ergebnis eines Bildungsprozesses sei, der sich nicht autonom vollziehe und somit unvermeidlich außengelenkt sei. Damit ähnele geistliche Deutungskompetenz aber anderen asymmetrischen Verhältnissen, wie sie in der Bildung üblich sind und die alle anfällig dafür seien, sexuell konnotiert und gewaltförmig zu werden. Daher werde eine Einzelbetrachtung kirchlicher Fälle der Gefährdung nicht gerecht. "Man wird sie vielmehr vergleichend in den Kontext der Frage nach den Strukturen stellen müssen, die in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen generell zu sexualisierter Gewalt führen", so Slenczka weiter.

Kurzschlüssige Verbindung von Schuld und Vergebung

Die ForuM-Studie hat als weiteren spezifisch evangelischen Gefährdungsfaktor den Bezug auf die Rechtfertigungslehre festgestellt und, so Slenczka, "die damit verbundene kurzschlüssige und harmoniesüchtige Verbindung von Schuld und Vergebung". Diese Verbindung führe dazu, dass das Identifizieren von Schuld sofort die Betroffenen vor die Erwartung stellt, Vergebung zuzusprechen. Slenczka sieht darin ein Problem des protestantischen Selbstverständnisses der Gegenwart: eine Banalisierung der Rede von Schuld und Vergebung. "Wer zwischenmenschlich Vergebung oder Versöhnung als spezifisch christliches Handeln oder als christliche Haltung einfordert, übersetzt den Begriff in eine moralische Maxime. Er identifiziert zudem unter der Hand das Vergeben mit dem Vergessen oder Beschweigen", stellt der Theologe fest. Das Vergeben sei aber begründet im Umgang Gottes mit der Schuld, theologisch also im Kreuz Christi: "Dieser Hinweis ist auslegungsbedürftig, aber wie immer man das Kreuz im Einzelnen interpretiert: Genau damit wird die Schwere der Tat betont – und das Vergeben und Versöhnen wird den Charakter einer die Schuld ignorierenden und überspringenden Naivität ('alle sollen sich wieder lieb haben') verlieren." Die ForuM-Studie müsse zum Anlass genommen werden, "sich darauf zu besinnen, dass der christliche Glaube zur Rechtfertigung der Untat verkommt, wenn die Rede von der Vergebung nicht mehr in den Kontext der Christologie gestellt und die Unselbstverständlichkeit der Vergebung betont wird". Das sei eine Bringschuld der akademischen Theologie und Ausbildung.

Schließlich betont Slenczka, dass christlicher Glaube ohne Zuwendung zu den Tätern nicht zu haben sei: "Die 'Zöllner und Sünder', denen sich Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien zuwendet, sind nicht Sympathieträger oder marginalisierte Gestalten, denen grundsätzlich unsere Zuneigung gilt, sondern wirklich diejenigen, die abscheuliche Untaten begangen haben." Diese Zuwendung stehe nicht unter der Bedingung der Reue, sondern führe im besten Fall "zur Reue, zum Bekenntnis und zum Versuch der Wiedergutmachung". Daher hätten die Kirchen unbeschadet der Durchsetzung der Konsequenzen der Tat auch die Aufgabe der seelsorgerlichen Betreuung  der Täter: "Das muss festgehalten werden auch dann, wenn diese Feststellung keine Freunde macht."

Ende Januar wurde die von der Evangelischen Kirche in Deutschland beauftragte Studie des unabhängigen Forschungsverbunds "ForuM" veröffentlicht. Sie zeigt Ausmaß und Risikofaktoren sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Die Wissenschaftler ermittelten mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie in den Jahren 1946 bis 2020. Aufgrund der für die Studie zur Verfügung stehenden Aktenlage gehen die Forschenden davon aus, dass die tatsächliche Zahl weit höher liegt. Hochrechnungen anhand der vorhandenen Daten führen zu Schätzungen von 9.000 Betroffenen und 3.500 Beschuldigten. (fxn)