Pilgernde Frauen und kritische Bischöfe: Ostern im 4. Jahrhundert
Das Heilige Land mit eigenen Augen zu sehen – danach sehnen sich nicht erst in der Gegenwart viele Menschen. Bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christi Tod und Auferstehung wurden Jerusalem und die weiteren Stätten, an denen Jesus gelebt hatte, zu beliebten Pilgerorten, zumal das Heilige Land damals als Mittelpunkt der Welt galt. Unter den Pilgern des 4. Jahrhunderts waren auffallend viele Frauen, sehr zum Missfallen der damaligen Bischöfe, denen diese weibliche Reiselust suspekt war. Die Motive der Pilgerinnen für ihre Reise waren unterschiedlich: Die einen sahen darin eine Möglichkeit, ihrem Alltag zu entfliehen; andere, wie Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, hatten andere Interessen im Sinn, so die Historikerin Anne Mann.
Helena besuchte mit einer Gruppe frommer Frauen, Soldaten und Höflingen die von ihrem Sohn erbauten und von ihr finanzierten Stätten. Dabei soll sie, so die von Ambrosius, dem damaligen Bischof von Mailand, verbreitete Legende, das Kreuz Christi und andere Reliquien gefunden haben. Darunter soll sich auch die Dornenkrone Jesu befunden haben, die heute in der Kathedrale Notre-Dame in Paris verehrt wird. Neben Helena kennt die Kirchengeschichte auch jene Frauen, die nach einer langen Pilgerreise nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren wollten. Zu ihnen gehört Paula, eine enge Vertraute des Kirchenlehrers Hieronymus. Weil ihre Tochter zu streng fastete und daran starb, wurde Hieronymus in der Öffentlichkeit heftig kritisiert. Als einzigen Ausweg sah sie die Flucht aus Rom nach Osten.
Pilgernde Frauen waren Bischöfen wie Bonifatius oder Gregor von Nyssa allerdings suspekt, so Historikerin Mann. Beide waren der Meinung, dass Frauen aufgrund ihrer scheinbaren körperlichen Schwäche auf Hilfe angewiesen seien. Deshalb sollten sie sich nicht allein auf den Weg machen. Eine Ausnahme war die Begleitung durch andere fromme Frauen oder ältere Geistliche. Bonifatius sah die beliebten Frauenwallfahrten skeptischer und forderte sogar ein Verbot, da sie entweder umkommen oder ihre Jungfräulichkeit verlieren könnten.
Pilgerin aus der wohlhabenden Oberschicht
Eine aus Nordspanien stammende Frau namens Egeria ließ sich davon jedoch nicht abschrecken. Um das Jahr 381 begann sie ihre mehrjährige Reise durch das Heilige Land und verfasste eine Art Reisebericht in Form von Briefen an ihren Bekanntenkreis frommer Frauen, die nicht mitreisen konnten oder durften. Ihr Bericht wurde jedoch erst spät in der Klosterbibliothek von Arezzo entdeckt, allerdings anonym. Erst als ein um 680 verfasster Brief des Mönchs Valerius von Bierzo damit in Verbindung gebracht wurde, war der Name der Verfasserin klar: Egeria.
Ob es sich bei der schreibenden Pilgerin um eine Ordensfrau handelte, ist unklar. Der Philologe Daniel Groß schreibt im kulturhistorischen Werklexikon "Die Rezeption der antiken Literatur", dass man aufgrund der Freiheit und der finanziellen Mittel, die Egeria zum Reisen hatte, von einem Mitglied der wohlhabenden römischen Oberschicht ausgehen müsse. Aus ihrem Kreis sollen mehrfach Frauen als Pilgerinnen ins Heilige Land gereist sein.
Historikerin Hagith Sivan von der Universität in Kansas geht in ihrem Werk "Holy Land Pilgrimage and Western Audiences" der Frage nach, ob Egeria unmittelbar vor ihrer Reise getauft wurde. Denn ihr Bericht legt besonderes Augenmerk auf die Taufrituale und die Vorbereitung. Es sei durchaus möglich, so Sivan, dass Egeria ein Katechumenat durchlaufen habe und dann entsprechend in der Osternacht getauft worden sei. Dies würde gegen die Annahmesprechen, dass Egeria zu Beginn ihrer Reise Ordensfrau war. In jedem Fall zeugt ihr Bericht von einer sehr guten Kenntnis der biblischen Texte. Über sich selbst schreibt die Pilgerin, sie sei ein sehr neugieriger Mensch gewesen, aber ihr Interesse habe sich auf christliche Orte und Frömmigkeit beschränkt. Während der Pilgerreise sei es ihr zur Gewohnheit geworden, an den für die Christenheit wichtigen Orten zu beten, heißt es in ihren Briefen. Manchmal habe es an den verschiedenen Orten auch "kleine Gottesdienste" gegeben, so die Pilgerin weiter.
Nüchterner Reisebericht
Laut der Historikerin Mann scheint das Reisen mit Egeria auch seine anstrengenden Momente gehabt zu haben, denn an fast jedem entsprechenden Ort wurde zuerst ein Gebet gesprochen, gefolgt von der entsprechenden Bibelstelle und einem Psalm. Da konnte es schon mal länger dauern. Auch andere biblisch relevante Orte sah die Pilgerin. "Mönche zeigten Egeria den Brennenden Dornbusch, dessen Echtheit sie nicht in Frage stellte. Der Weg der Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten durch das Rote Meer schien ihr zwar etwas wirr, doch zweifelte sie nicht an der Authentizität der ihr genannten Rastplätze", so Mann weiter.
Entsprechend nüchtern fällt Egerias Reisebericht aus. Der Historikerin zufolge scheint Egeria keine Visionen gehabt zu haben, wie die zeitgleich reisende Paula. Diese soll sich weinend zu Boden geworfen haben, da sie "den Säugling Jesus leibhaftig weinend in seiner Krippe gesehen haben wollte oder den rasenden Herodes". Und: "Auch scheint Egeria keine asketischen Neigungen gehabt zu haben. Sie erwähnt weder Fasten noch Schlafentzug. Stattdessen zeigte sie großes Interesse an den religiösen Festen und Kulthandlungen in Jerusalem, die sie im zweiten Teil ihres Berichtes ausführlich schildert."
Die ausführliche Erzählung geht auf die Heilige Woche ein, die bereits am Samstag vor Palmsonntag mit dem sogenannten "Lazarus-Samstag" begann. Auch im weiteren Verlauf der Woche tauchen immer wieder Orte auf, die im Evangelium von Bedeutung sind. So zum Beispiel der Ort, an dem Maria, die Schwester des Lazarus, Jesus begegnete und sich ihm weinend zu Füßen warf. Hier soll die Karwoche mit einem Gottesdienst eröffnet worden sein, gefolgt von einem festlichen Gottesdienst mit Palmzweigen am Palmsonntag – in einer der konstantinischen Kirchen Jerusalems, der Eleona-Kirche, die auf dem Ölberg stand. Sie wurde 614 von den Persern zerstört und 1874 von einer französischen Adelsfamilie wieder aufgebaut. Hier soll Jesus seine Jünger das Vaterunser gelehrt haben.
Intensive Liturgie
An den übrigen Tagen beschreibt Egeria einzelne Gebete und Liturgien, die der Bischof von Jerusalem selbst leitete. So stand am Dienstag der Karwoche die Rede Jesu über die Zeichen und Verfolgungen der Endzeit im Mittelpunkt, am Mittwoch der Verrat des Judas, während am Gründonnerstag der Gottesdienst in der Grabeskirche bis in die frühen Morgenstunden dauerte und die Eucharistie hinter dem Kreuz ausgeteilt wurde – eine Praxis, die nur einmal im Jahr, am Gründonnerstag, so praktiziert wurde. Die Grabeskirche ist die Kirche in der Altstadt Jerusalems, die sich an der überlieferten Stelle der Kreuzigung und des Grabes Jesu befinden soll. Sie zählt heute zu den bedeutendsten Heiligtümern der Christenheit.
Interessant ist die Intensität der Liturgien, die teilweise bis Mitternacht und in die frühen Morgenstunden dauerten – etwa am Gründonnerstag oder in der Osternacht. Der Karfreitag stand ganz im Zeichen der Passionsgeschichte und begann nach dem Neutestamentler Max Küchler bereits mit dem ersten Hahnenschrei mit dem Gang vom Ölberg zu der Stelle, an der die Überlieferung das Gebet Jesu vor seiner Verhaftung verortet. Er dauerte bis 15 Uhr – wer nicht müde war, ging auch zur Nachtwache. Die meisten waren jedoch aufgrund des damaligen strengen Fastens und des Schlafmangels sehr erschöpft. Egeria erwähnte in ihren Briefen den Verzicht auf Brot, Öl und Obst, man ernährte sich von Wasser und einer sogenannten Mehlspeise – dennoch sollte jeder so fasten wie er konnte. Egeria dazu: "Niemand fordert, wieviel einer tun muss, sondern jeder tut, was er kann. Weder wird der, der viel tut, gelobt, noch wird der getadelt, der weniger tut. Das ist hier so üblich."
Der Ostergottesdienst am Sonntag durfte nicht zu lange dauern, da die Menschen von den Nachtwachen erschöpft waren: "Mit Rücksicht auf das Volk geschieht alles eilig", fasst Egeria die Liturgie des Ostersonntags kurz und bündig zusammen. Was danach geschah und wie die Osterfeierlichkeiten weitergingen, ist nicht überliefert.