Neumaier zur RTL-Passion: Teilen wir die Sprache dieser Menschen?
So explizit gibt es Religion selten im Fernsehen: Bei der Passion auf RTL wurde die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu für ein breites Publikum mit bekannten Schauspielern und Popmusik neu erzählt. Wen erreicht RTL, den die Kirche nicht erreicht – und wie? Was kann die Kirche daraus für die Verkündigung lernen? Die Bochumer Religionswissenschaftlerin Anna Neumaier hat die Passion live verfolgt. Im katholisch.de-Interview erläutert sie, warum Menschen Glauben und Kirche nicht unbedingt zusammendenken und was das für die Pastoral bedeutet.
Frage: Frau Professorin Neumaier, Sie haben die Passion auf RTL selbst verfolgt und in den sozialen Medien live kommentiert. Was war für Sie der persönliche Höhepunkt?
Neumaier: Als Religionswissenschaftlerin schaue ich darauf vor allem auf der Metaebene: Was passiert da eigentlich, wie wird eine Story umgesetzt, wie reagieren Leute darauf?
Frage: Gab es auch einen Moment, in dem Sie den distanzierten wissenschaftlichen Blick kurz vergessen und sich gedacht haben: Das spricht mich jetzt im Herzen an?
Neumaier: Es gab natürlich Passagen, die mich mehr abgeholt haben als andere, manche Lieder sprechen mich mehr an als andere. Aber der wissenschaftliche Blick hat dann doch überwogen.
Frage: Ich kann Sie also nicht dazu bringen, sich als Helene-Fischer- oder Tote-Hosen-Fan zu outen?
Neumaier: Das sind Geschmacksfragen. Ich bin jetzt kein Udo-Jürgens-Fan, aber dass sein Stück "Liebe ohne Leiden" von Maria adaptiert wurde, fand ich sehr stimmig. Das ist ausgebrochen aus der sonstigen Musikauswahl, die doch sehr auf romantische jüngere deutsche Popmusik zielte. Falls es noch eine Fortsetzung gibt, würde ich mich grundsätzlich über mehr überraschende Entscheidungen bei der Musik freuen.
Frage: Die Ästhetik der RTL-Passion ist für die Kirche sehr ungewohnt. Kirchliche Verkündigungsformate sehen ganz anders aus. Funktioniert diese Passion als Verkündigung?
Neumaier: Nicht bei allen Zielgruppen. Auf Social Media ist mir einerseits eine große Gruppe an Menschen aufgefallen, die wirklich gar keine Berührungspunkte mit Religion haben, und für die das eine Irritation war, die sie nur mit Ironie schauen konnten – quasi als Trash-TV wie Dschungelcamp oder Traumschiff. Unter Gläubigen gibt es verschiedene Betrachtungsweisen: Einmal natürlich die, denen es zu popularisiert war. Das hat auch mit Distinktion zu tun – man grenzt sich von solch breitenkulturellen Unterhaltungsangeboten vielleicht ohnehin eher ab. Aber es gibt auch die, die sich abgeholt fühlen, die sich repräsentiert sehen. Und zwar hier eben mal nicht nur als Objekt der Berichterstattung über zum Beispiel kirchliche Skandale, sondern mit christlichen Inhalten. Dazu muss man nicht alles im Detail gut finden, sondern kann auch einfach nur würdigen, dass es solche christlichen Inhalte in der Prime Time auf RTL gibt.
Frage: Und diese christlichen Inhalte kommen gerade nicht von der Kirche. Kirchliche Verkündigungsformate nehmen oft selbst eher Meta-Positionen zum Glauben ein. So direkte Glaubensaussagen und -zeugnisse wie von den Kreuzträgern hört man da selten. Hat die Kirche es verlernt, emotional vom Glutkern ihres Glaubens zu sprechen?
Neumaier: Die Frage nach der Unmittelbarkeit habe ich mir auch gestellt: Ist das zu populär? Ist das zu deutlich? Kann man Glaubensinhalte so unvermittelt kommunizieren? Man muss sich dabei vielleicht nochmal bewusst machen, dass es nicht RTL erfunden hat, religiöse Gehalte in populäre Erzählformen zu gießen. Das fällt uns bei älteren Erzählformen oft nur nicht mehr auf, weil sie uns schon traditionell und konserviert vorkommen – bei Krippenspielen zum Beispiel, oder auch in Altötting bei den Passionsspielen. Das für kirchlich Sozialisierte Irritierende an der RTL-Passion ist, dass diese aus einer gegenwärtigen und alltagsnahen Perspektive und Ästhetik erzählte Frömmigkeit uns sehr ungewohnt vorkommt.
Frage: Vertraut sind kirchlich Sozialisierten aber die Dialoge. Die waren fast komplett und wörtlich den Evangelien entnommen. Wie erklären Sie sich diese Entscheidung?
Neumaier: Ich halte das für eine gute Idee. Das hat dem Format noch einmal eine andere Tiefendimension gegeben, eine andere Ernsthaftigkeit und bei aller Aktualisierung in der Form auch einen Bezug zu den Quellen der Tradition hergestellt. Etwas funktionaler gedacht: Die moderne Ästhetik, die populäre Musik und die biblische Sprache bedienen gleichzeitig mehrere Zielgruppen mit unterschiedlichen Vorlieben.
Frage: Bei den Gesprächen mit den Menschen, die das Kreuz getragen haben, hörte man sehr viele sehr explizite Zeugnisse über Glaubenserlebnisse.
Neumaier: Es war auffällig, dass es durchweg ein bestimmter Typus von Geschichten war: Erweckungs- und Konversionsgeschichten, herausragende Ereignisse im Glaubensleben, die man vielleicht ein-, zweimal im Leben hat. Das passt natürlich zur Logik des Formats. Da hat man eine Story. Was aber meines Erachtens auffällig fehlte, waren alltägliche Formen von Glauben, wie sie das Leben von den meisten Christinnen und Christen in Deutschland ausmachen.
Frage: Bei den Interviews mit den Darstellerinnen und Darstellern in der Nachberichterstattung kamen solche Extremsituationen der Bekehrung nicht vor. Stattdessen zeigte sich ein Traditionsabbruch: Auf die erstaunlich intimen Fragen zum Glauben gaben die meisten an, mit der Kirche recht wenig zu tun zu haben, aber gläubig zu sein und zu beten. Was kann man daraus für Verkündigung und Pastoral lernen?
Neumaier: Das war sehr auffällig: Individuell werden Konzepte von Glaube und Religiosität ganz anders verstanden, als man das aus einer volkskirchlichen Perspektive tun würde. Deutlich wurde das zum Beispiel im Interview mit der Maria-Darstellerin Nadja Benaissa, die sehr deutlich sagte, dass sie gläubig, aber nicht religiös sei. Da steckt ganz viel drin, das sich zu verstehen lohnt. Das Wort "religiös" scheint für sie ein Code für ein institutionelles Denken zu sein, von dem sie sich abgrenzt. Gläubig zu sein, versteht sie als individuelle Entscheidung, die überhaupt nicht irgendwo andocken muss. Das deckt sich durchaus mit religionssoziologischen Erkenntnissen: Glaube und Kirchlichkeit sind in der individuellen religiösen Identität nicht notwendig miteinander verbunden. Dann gibt es aber oft weder eine ausgeprägte religiöse Sprachfähigkeit noch eine Sprache, die kirchlich Sozialisierte oder gar Hauptamtliche und religiöse Expert:innen mit nichtkirchlich Glaubenden teilen. Es ist eine sehr große Herausforderung für Gemeinden und Seelsorgende, mit dieser Ausgangsbasis umzugehen. Welche Angebote kann man Menschen machen, die sich ganz klar von der institutionellen Ebene von Religion abgrenzen? Gestehen sie der Kirche überhaupt irgendeine Zuständigkeit für ihre Spiritualität zu?
Frage: Was empfehlen Sie den Kirchen?
Neumaier: Man muss sehr genau überlegen, was man Menschen bieten kann – und was man erwarten kann. Im Bereich der digitalen Glaubenskommunikation erlebe ich oft die Haltung, dass schon die Notwendigkeit erkannt wird. Aber doch allzu oft mit der Hoffnung verbunden, dass die Leute, die man mit digitalen Angeboten erreicht, dann ja irgendwann in der Kirche in einem "echten" Gottesdienst landen. Davon muss man sich verabschieden. Das Ziel darf nicht sein, die Leute für Formen und Institutionen zu begeistern, die für sie überhaupt keine Rolle spielen. Stattdessen sollte man darüber nachdenken, wo es inhaltliche Berührungspunkte gibt.
Frage: Am Ende der Passion wird Jesus nicht ans Kreuz geschlagen, Tod und Auferstehung ist Aufgabe des Erzählers. Ist der eigentliche Kern der Botschaft dann doch zu hart für RTL? Funktioniert Passion ohne Ostern?
Neumaier: Schon bei der ersten RTL-Passion war das so. Für mich persönlich fehlt da ein entscheidender Punkt. Wenn man den "Herrn der Ringe" verfilmt, würde man doch auch nicht aufhören, ohne in einigermaßen beeindruckenden Bildern zu zeigen, wie am Ende der Ring in den Schicksalsberg geworfen wird. In anderen Erzählformen würde man sagen: Da fehlt die Katharsis oder der Höhepunkt. Mich würde interessieren, warum sich die Verantwortlichen für dieses Ende entschieden haben – eine rein pragmatische Entscheidung, weil vielleicht die Sendezeit knapp wurde, kann es ja kaum sein.
Frage: Fällt Ihr Fazit trotzdem positiv aus?
Neumaier: Ja. Wie hier unterschiedliche Zielgruppen erreicht wurden, ist etwas besonderes. Natürlich kann man sehr vieles sehr kritisch diskutieren – aber dass mit neuen Formaten experimentiert wird, ist doch schonmal gut. Ich finde es zweitens bemerkenswert, dass es der Privatsender RTL ist, der so deutlich auf die religiöse Dimension von Ostern verweist. Ostern ist in der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung doch sonst vor allem ein Familienfest mit Ostereiern und Schokohasen. Aus der Perspektive ist mein Fazit: Gerne wieder!