Warum sich ein fränkischer Pfarrer um eine dreihufige Kuh kümmert
Wer Kuh Haribo nicht kennt, wird auf den ersten Blick kaum bemerken, dass ihr ein Huf fehlt. Erst wenn sie sich bewegt, fällt es auf. Dann macht sie einen großen Satz nach vorne und fängt sich mit dem gesunden Vorderhuf wieder auf. "Sie hat gelernt, sich auszubalancieren", sagt Michael Prokschi. Seit fast fünf Jahren kümmert er sich schon um Haribo, mindestens einmal pro Woche.
Dass Haribo heute knapp zehn Jahre alt ist, ist auch ihm zu verdanken. Prokschi ist katholischer Pfarrer in Kirchzell am Rande Unterfrankens im Bistum Würzburg. Seit vielen Jahren pflegt er Beziehungen zur Familie Wörner, die einen Hof kurz hinter der Grenze zu Bayern in Baden-Württemberg betreibt. Prokschi hat das Ehepaar Wörner getraut, kommt schon damals ab und zu auf dem Hof vorbei – und erfährt bei einem Besuch im Sommer 2019, dass am Morgen eine trächtige Kuh mit einem fast abgetrennten Huf gefunden wurde.
"Ich schenk sie dir"
Wie das passiert ist, weiß niemand genau. "Da stand die Frage im Raum, ob sie eingeschläfert wird, sobald das Kalb da ist", erzählt Prokschi. Nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen, für Landwirt Michael Wörner ging es vielmehr um die Frage nach dem Wohl der Kuh: Für Fluchttiere sei es schlimm, nicht aufstehen zu können. Hinzu kam der Gedanke, ob die zusätzliche Arbeitsbelastung zu stemmen sei, ohne die anderen Kühe und Kälbchen zu vernachlässigen. Schließlich würde Haribo einen abgetrennten Bereich im Stall brauchen und ihr verletztes Bein viel Pflege.
Noch am gleichen Vormittag wird Haribo der verletzte Huf abgenommen, das Bein wird geschient und verbunden. "Und die wacht aus der Narkose auf und steht direkt wieder auf", erinnert sich Landwirt Wörner. Zwei Tage später kommt Prokschi erneut zum Hof. "Und dann hab ich die Kuh angeschaut und gesagt, dass es eigentlich schade wäre, sie einzuschläfern", erinnert er sich. "Dann hat der Landwirt gesagt: 'Was wollen wir mit einer dreibeinigen Kuh? Ich schenk sie dir'."
Von da an kommt Prokschi fast jeden Tag auf den Hof und kümmert sich um Haribo. Damit kein Dreck in ihre Wunde kommt, badet er den Stummel und versorgt ihn mit Jodsalbe. Mitglieder aus der Kirchengemeinde stricken Strümpfe, die über Haribos Verband gezogen werden, damit sie nicht daran nagt. Viele hätten die Kuh sehen wollen, erzählt er: "Das war hier schon fast wie ein Wallfahrtsort." Vier Monate lang braucht Haribo die tägliche Pflege des Pfarrers. "Aber sie hat immer mitgemacht", sagt Prokschi. "Sie wollte leben und macht auch heute nicht den Eindruck, dass sie sich quält oder leidet."
120 Kühe leben in Wörners Stall. Hinzu kommen Kälbchen, insgesamt sind es rund 170 Tiere. Die Kühe liefern aber nicht nur Milch, sondern werden auch geschlachtet. "Das macht uns keine Freude", gibt Wörner zu. "Ihr Leben, auch wenn es kurz ist, muss schön sein." Das schließt für ihn mit ein, nicht aus jedem Tier den letzten Cent rauszuholen. Die Kuh sei schließlich ein Lebewesen – aber eben auch ein Nutztier.
"Es ist nicht so, dass ich Vegetarier geworden bin, aber..."
Prokschi sieht das ebenfalls pragmatisch. Dass er eine enge Bindung zu einer Kuh hat, schließt für ihn Fleischkonsum nicht aus. "Es ist nicht so, dass ich Vegetarier geworden bin", sagt er. "Aber ich brauche es nicht jeden Tag." Wichtig seien die Herkunft und, dass die Tiere ein gutes Leben gehabt hätten. Dafür wünscht er sich mehr gesellschaftliches Bewusstsein.
Haribo, die mit ihren zehn Jahren schon eine Seniorin unter den Kühen ist, macht trotz fehlenden Hufs einen zufriedenen Eindruck. "Wenn die Haribo mal nicht mehr lebt, ist es bestimmt schwierig, weil sie eine ganz liebe Kuh ist", sagt Prokschi. Dennoch sei sie eben ein Tier – und Tiere solle man nicht vergöttern. Auch eigenen Friedhöfen für Haustiere steht er skeptisch gegenüber. Trotzdem genießt er es, sich um Haribo zu kümmern. Die Kuh ist für ihn zu einem Kuscheltier geworden. "Sie ist sehr anschmiegsam", sagt er. Wenn er am Wochenende zu ihr fährt, ist das auch für ihn selber Entspannung – etwa dann, wenn er sich zu ihr ins Stroh legt.
Am Ende haben alle davon profitiert, dass Prokschi sich entschlossen hat, sich um die Kuh zu kümmern. Haribo lebt schon etwa doppelt so lange wie andere Kühe in Wörners Stall und zieht mit ihrer Milch auch fremde Kälbchen als Amme auf. Landwirt Wörner hat keine zusätzliche Arbeit, sondern kümmert sich nur um Unterstand und Futter. Und Pfarrer Prokschi hat eben eine Kuschel-Kuh. Bereut hat er seine Entscheidung nie.