Erzbischof Bentz: Nahost-Konflikt komplexer als in Deutschland bewusst
Der Paderborner Erzbischof Udo Bentz, in der Deutschen Bischofskonferenz für den Nahen und Mittleren Osten zuständig, hat zum ersten Mal seit Kriegsbeginn das Heilige Land besucht. Dort nahm er am Festakt zum 50-Jahr-Jubiläum des Theologischen Studienjahres Jerusalem teil und traf Vertreter der Kirche sowie der palästinensischen und israelischen Zivilgesellschaft. Und sprach mit jungen Menschen über ihre verzweifelte Lage, wie er im Interview schildert.
Frage: Herr Erzbischof Bentz, als zuständiger deutscher Bischof für Nah- und Mittelost kommen Sie häufig ins Heilige Land. Jetzt sind Sie zum ersten Mal seit dem 7. Oktober hier. Was ist diesmal anders?
Bentz: Alles. Hier hat sich nach meinem Eindruck nicht nur etwas gesteigert, sondern es ist wirklich alles anders. Wir können von außen nur schwer erahnen, wie massiv das israelische Volk traumatisiert ist. Jemand hier sagte mir, dieser Terroranschlag der Hamas, ja das "Massaker" der Hamas, ist für das jüdische Volk der schlimmste Tag seit dem Holocaust. Freilich wurde bei unseren Gesprächen auch deutlich, dass das in der Konsequenz und der folgenden Entwicklung auch zu einer Traumatisierung im palästinensischen Volke führte. Mir erzählten palästinensische Schülerinnen im Gespräch, bisher herrschte an vielen Stellen Misstrauen, das ist plötzlich zu Hass geworden. Diese Erfahrungen gehören inzwischen anscheinend zum Alltag. Ihre Eltern hätten Angst, sie aus dem Haus zu lassen. Und auf dem Schulweg im Bus spürten sie hautnah die Skepsis, wenn sie Arabisch sprächen.
Frage: Wie ist die Situation für die Christen insgesamt?
Bentz: Nach meinen Eindrücken ist der Konflikt nochmal wesentlich komplexer, als wir es in Deutschland wahrnehmen. Auch Christen wurden Opfer dieses Terrorangriffs. In der israelischen Armee dienen Christen und sind auch in Gaza im Einsatz. Aber es sind auch die Christen in Gaza, die unter dieser humanitären Katastrophe und der Gewalt leiden. Und auch im Westjordanland leben Christen, die von der Siedlungspolitik und der Siedlungsgewalt betroffen sind – die im Schatten des Gazakriegs nochmals deutlich zugenommen hat.
Frage: Sehen Sie in dieser Kriegssituation Perspektiven für eine Friedenslösung für die Region?
Bentz: Diese Frage habe ich hier auch meinen Gesprächspartnern gestellt – und stieß auf eine große Ratlosigkeit; es gibt keine konkrete, greifbare Lösung. Aber es ist auch deutlich geworden, dass das Ende der Gewalt nicht den Beginn von Frieden bedeutet. Auf der anderen Seite haben alle Gesprächspartner gesagt, es brauche ein rasches Ende des Leids. Wie die nächsten Schritte aussehen könnten, da gehen die Positionen auseinander. Es hängt auch davon ab, wie sich Israels Innenpolitik entwickelt, die Regierung steht massiv unter Druck. Auf der anderen Seite hörte ich von Vertretern der palästinensischen Zivilbevölkerung, ihre Administrationsbehörde sei sehr schwach, es gebe kein Vertrauen, es müsse einen Wechsel geben.
Frage: Können die Christen hier eine Rolle spielen, etwa der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, oder die Oberhäupter der Christen gemeinsam?
Bentz: Der Patriarch sagt, wir sind als Kirche nicht Politiker, wir haben in erster Linie keine politische Aufgabe. Deswegen müsse die Kirche ihre Perspektive aufzeigen, müsse deutlich machen, dass sie an der Seite der leidenden Menschen steht. Ihr großes Ziel ist, die Würde aller Menschen zu verteidigen – auf beiden Seiten. Die Sicherheit Israels könne letztlich nicht nur durch Militär und Polizei gesichert werden. Die Achtung der Rechte der Palästinenser widerspricht letztlich nicht dem Sicherheitsinteresse Israels, sondern dient ihm sogar. Denn wo die Menschen wirklich in ihrer Würde und ihren Rechten geachtet werden, dort wird dem Extremismus die Grundlage entzogen.
Frage: Hat die Zwei-Staaten-Lösung noch eine Zukunft?
Bentz: Die Frage wurde interessanterweise vor zwei, drei Jahren sehr viel stärker und sehr skeptisch gestellt. Jetzt, seit dem 7. Oktober höre ich: Wenn es hier überhaupt ein Nebeneinander, ein Miteinander in irgendeiner Form geben soll, dann nur mit einer Zweistaatenregelung. Gleichzeitig gibt es aber das große Achselzucken, aber wie, aber wie?
„Heilige Stätten dürfen nicht Ort politischer Provokation sein.“
Frage: Patriarch Pizzaballa hat am Palmsonntag an Christen in aller Welt appelliert, wieder das Heilige Land als Pilger zu besuchen und damit einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Schließen Sie sich dem an?
Bentz: Es ist grundsätzlich richtig, dass Pilger die Rolle der Christen in diesem Land stärken. Ich hoffe, dass sich die Lage so entwickelt, dass Pilger wieder ins Heilige Land kommen können.
Frage: Das Theologische Studienjahr, an dessen Jubiläum Sie jetzt teilnahmen, leistet seit 50 Jahren einen einzigartigen Beitrag in der Theologenausbildung – und zwar ökumenisch. Wie wollen Sie angesichts sinkender Theologenzahlen und zurückgehender Bewerbungen für Jerusalem diesen Beitrag zukunftsfest machen?
Bentz: Wir können die Zahlen zwar nicht außen vorlassen, aber sie sind nicht das einzige Moment. Ein theologischer Lernort muss zugleich auch ein außergewöhnlicher Lebensort sein. Wir erleben, dass Jerusalem und das Theologische Studienjahr – dass diese Konstellation ein einzigartiger Wissenschaftsstandort in der Welt ist. Geschichte, Theologie, Dialog der Religionen und Ökumene zu verheutigen – und zwar in dieser gesellschaftlichen Situation, und zudem noch in der Form einer einjährigen gemeinsamen Lebensschule – das ist etwas ganz Außergewöhnliches. Dieses theologische Studienjahr weist nach meiner Ansicht ein wirkliches Alleinstellungsmerkmal mit einem außerordentlichen Profil auf.
Wir müssen sehen, wie das in Zukunft noch stärker profiliert werden kann. Die Abtei bietet nicht nur einen besonderen geistlichen Ort, sondern schon jetzt begegnen hier einander Vertreter von Kirchen, der internationalen Völkergemeinschaft und der Wissenschaft. Damit wollen wir uns als Beirat noch auseinandersetzen und nach einem Zukunftsweg schauen. Der darf sich aber nicht nur einfach an Zahlen orientieren, denn das Wissenschaftsprofil, das Profil des Ortes und das Alleinstellungsmerkmal von Jerusalem sind so stark, dass wir das fortsetzen müssen.
Frage: Seit längerem wird – auch unter Vatikan-Diplomaten – beraten, wie die christliche Sicht auf die Heilige Stadt Jerusalem, ihren Status und ihre Heiligen Stätten angesichts der fortschreitenden politischen Lage präzisiert werden kann. An welchem Punkt ist man?
Bentz: Heilige Stätten dürfen nicht Ort politischer Provokation sein. Wer das in irgendeiner Form zulässt, spielt unverantwortlich mit dem Feuer. Es wurde immer wieder diskutiert, die Heiligen Stätten unter einen internationalen Status zu stellen, um sie von diesem politischen Gezerre frei zu halten. Man muss deutlich machen, dass der freie Zugang zu diesen Heiligen Stätten allen möglich ist – aus Glaubensgründen und nicht aus politischer Agitation heraus. Das ist aktueller denn je. Allerdings war der Status der Heiligen Stätten bei meinen Gesprächen in dieser Woche eigentlich kein Thema. Der Fokus liegt momentan ganz auf dem, was in Gaza, im Westjordanland oder innerhalb der Gesellschaft passiert.