Durch das Auge zur Seele: Die Lichterkirche in Dillenburg
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Es ist nur ein Druck auf den Bildschirm, schon taucht sich das Kirchenschiff in orangerotes Licht. "Der Song 'Somebody To Love' von Queen ist ein Plädoyer für mehr Gemeinschaft. In seiner Mitte steht die Sehnsucht, jemanden zu finden, den man liebt", hallen die Worte durch den Raum. Dann beginnt Freddie Mercury zu singen. Seit Kurzem können Besucherinnen und Besucher der Herz-Jesu-Kirche im mittelhessischen Dillenburg den Kirchenraum mit einem digitalen Bedienfeld ganz nach Belieben in eine bestimmte Lichtstimmung tauchen, mit Musik oder Meditationen und Gebeten bespielen lassen. Die Pfarrei hat aus ihrer Kirche eine Lichterkirche gemacht – und will damit ein positives Zeichen in eine ungewisse Zukunft setzen.
Die Idee geht auf die Corona-Zeit zurück. In der Pfarrei "Zum Guten Hirten an der Dill", einer Großpfarrei im Bistum Limburg mit über 80 Ortschaften auf 630 Quadratkilometern mit Dillenburg in der Mitte, wurde damals mit digitalen Formaten experimentiert. "Wir waren fleißig und haben jeden Sonntag einen Videoimpuls produziert", sagt Pastoralreferent Michael Wieczorek. "Da haben wir viel gelernt. Am Anfang waren das grottige Handyvideos, aber dann haben wir Kameras angeschafft und durch Learning-by-doing weiterentwickelt", erzählt er. "Und die Scheu verloren", setzt Gemeindereferentin Marion Schroeder hinzu. Bei den ersten Videos habe sie in der Nacht vorher noch schlecht geschlafen, "am Ende war ich ganz schmerzfrei, denn es kann ja nichts Schlimmes passieren."
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Egal ob Songs oder Lichtstimmung: Alles lässt sich über ein Bedienfeld anwählen.
In diesem Umfeld entstand die Idee, auch etwas für den Kirchenraum zu machen. Eigentlich war eine Orgel-Jukebox angedacht, mit der sich Besuchende über ein Tablet Lieder von der Orgel vorspielen lassen konnten. Ein Team-Ausflug in eine Lichterkirche im Sauerland gab dem Projekt dann aber eine Wendung. Warum sie dann eine Lichterkirche in Dillenburg wollten? "Weil es geil ist!", sagt Wieczorek dazu.
Das Prinzip einer Lichterkirche ist schnell erklärt: In die Kirche wird ein Bedienfeld eingebaut. Auf diesem Bedienfeld können Besucher im Dillenburger Fall etwa zwischen "Klang & Lieder", "Farben & Atmosphäre", "Gebete & Texte" oder "Meditationen" wählen. Hinter "Klang & Lieder" verbirgt sich unter anderem der anfangs erwähnte Queen-Klassiker, aber auch etwa ein Lied von den Toten Hosen, daneben neuere und ältere Kirchenlieder. Unter "Farben & Atmosphäre" kann eine Lichtstimmung ohne Audio ausgewählt werden, bei den anderen Kategorien spielen jeweils Klang und Licht zusammen. Die Lichtstimmungen werden durch dafür installierte Scheinwerfer erzeugt, die den Altarraum und die Orgel direkt daneben anstrahlen. Die Lieder, Gebete und Meditationen dauern zwischen einer und etwa zehn Minuten.
Die katholische Kirche mit Sonderstellung
Lichterkirchen gibt es einige in Deutschland, entwickelt hat das Konzept die Marburger Firma Mediaki. Zum Bedienfeld mitgeliefert werden bereits einige Gebete und Meditationen mit passenden Lichtstimmungen. Das Pastoralteam sah in dem Konzept für Dillenburg eine Chance, denn die Herz-Jesu-Kirche hat eine Sonderstellung. In der protestantisch geprägten Region ist sie die einzige katholische Kirche der Stadt und dafür an einem der Plätze in der Innenstadt gut gelegen, zudem ist sie die einzige Kirche Dillenburgs, die über den Tag geöffnet hat. So verschlägt es immer wieder Touristen dorthin, denn in der Stadt endet der Rothaarsteig und Wilhelm von Oranien, der federführend an den Kämpfen zur Unabhängigkeit der nördlichen Provinzen der Niederlande beteiligt war, wurde dort geboren. Beides sorgt für viele Besucher aus den Niederlanden. Die Pfarreimitarbeitenden sahen eine Chance, mit einem besonderen Feature die Kirche für Menschen von nah und fern interessant zu machen.
Nach dem ersten Besuch angefixt, nahm das Pastoralteam bei einem weiteren Ausflug Pfarreimitglieder mit, die von der Idee ebenfalls angetan waren. Mit Mitteln aus einem Regionalentwicklungsfonds der Dill-Region, dem Innovationsfonds des Bistums sowie Pfarreigeldern konnten die Kosten von 20.000 Euro für System, Bedienpult und Scheinwerfer gestemmt werden. "Das hatte alles eine Deadline, bis wann die Sachen hier stehen mussten, das war ein ganz schöner Organisationsaufwand", sagt Bettina Tönnesen-Hoffmann.
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Die Verantwortlichen aus dem Pastoralteam in Dillenburg (v.l.n.r.): Michael Wieczorek, Bettina Tönnesen-Hoffmann und Marion Schroeder
Dazu kam: Die Dillenburger wollten ihrer Lichterkirche ihre eigene Handschrift geben. So setzten sich die Pastoralmitarbeitenden also an ihre Smartphones und nahmen neue Meditationen auf, zudem Grundgebete und Infos etwa zur Kirche oder katholischen Besonderheiten wie der Eucharistischen Anbetung. "Ich habe mich dann ein paar Stunden in einem Proberaum eingemottet und am Synthesizer Musik improvisiert, um die Texte zu untermalen", sagt Wieczorek. Der Musiker produzierte etwa 100 neue Dateien. Dazu kamen Aufnahmen lokaler Chöre und Musiker. Interessierte Gemeindemitglieder steuerten ihre ganz eigenen Ideen bei. Das Queen-Lied oder auch eines der Toten Hosen geht auf Impulse von Gläubigen zurück. "Die Menschen vor Ort sollen sich darin wiederfinden", so Wieczorek. Seine Kollegin Marion Schroeder ergänzt: "Wir wollen die katholische Weite hier abbilden." Die Kirche solle ein einladender Ort sein, für viele Gefühlslagen. Deshalb gibt es etwas für Trauer, Dankbarkeit und Freude. "Wir wollen die Menschen abholen, wo sie sind", sagt Tönnesen-Hoffmann. Dazu wollen die Verantwortlichen in Zukunft auf Schulen oder Seniorengruppen zugehen, um eine größere Vielfalt abzubilden. Auch ein Projekt mit Poetry-Slammern mit geistiger Behinderung ist geplant. Die Meditationen und Texte werden immer wieder wechseln. "Einerseits sollen die Gläubigen sich selbst hören, das Projekt dadurch aber auch anschlussfähig werden", so Wieczorek.
Mit internationaler Dimension
Gleichzeitig spielt die internationale Dimension eine große Rolle. In der katholischen Pfarrei leben Menschen aus mehr als 50 Nationen. Dazu kommen die vielen niederländischen Touristen. Eine kurze Kirchenführung auf deutsch, englisch und niederländisch gibt es schon. In der Zukunft soll es aber auch etwa das Vaterunser auf Kroatisch oder Ukrainisch geben. "Das soll ein niedrigschwelliger Türöffner sein", sagt Schroeder.
Das ist auch notwendig. Momentan hat die Großpfarrei noch 12.000 Mitglieder, schon 2040 sind es laut einer Projektion nur noch 5.000. "Das sind nur demografische Zahlen, da ist noch keiner ausgetreten", sagt Tönnesen-Hoffmann. Schon jetzt müssen Kirchengebäude verkauft werden. In der Region gab es lange lediglich drei katholische Kirchen, durch den Zuzug von Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann Filialkirchen gebaut, die jetzt alle renovierungsbedürftig werden, aber wegen der schwindenden Gläubigenzahl nicht immer noch wirtschaftlich sind. "Die zugezogenen Katholiken haben sich mit der restlichen Bevölkerung gut vermischt. Da werden dann, wenn überhaupt, die Kinder protestantisch getauft", sagt Tönnesen-Hoffmann. Der Gläubigenschwund betrifft die evangelische Kirche gleichermaßen, auch das protestantische Dekanat steht vor Umbrüchen. "Es gibt hier Dörfer, da ist die Gottesdienstbesucherzahl an einem Sonntag in der evangelischen Kirche einstellig. Da stellt sich nicht die Frage, was man in fünf Jahren machen muss – sondern jetzt", beschreibt Wieczorek das ökumenische Problem. Die Lichterkirche soll angesichts dieser Entwicklungen ein positiver Impuls sein. Das hätten auch einige Gemeindemitglieder zurückgemeldet. "'Endlich mal was Positives aus der Kirche', das haben wir immer wieder gehört", sagt Tönnesen-Hoffmann. "Es ist ein Blick nach vorne, wir wollen nicht nur der Vergangenheit nachtrauern, sondern auch etwas Neues anstoßen."
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Die Herz-Jesu-Kirche in Dillenburg thront über dem Wilhelmsplatz.
Wenn die Tage nun wieder wärmer werden und in Dillenburg der Ausflugs- und Wanderbetrieb einsetzt, wird sich zeigen, wie erfolgreich das Konzept ist. Dann wird ein Plakat an der Kirche hängen, das auf das besondere Angebot aufmerksam macht. Es rechnet aber niemand damit, dass die Lichterkirche Massen anzieht. "Diesen Anspruch haben wir nicht", sagt Tönnesen-Hoffmann. "Ziel ist nicht, die Kirche voll zu bekommen, sondern dass die Leute für sich etwas Gutes erleben. Wenn sie überrascht sind und Freude haben, das ist auch schonmal was." Dass das funktionieren kann, zeigt das Gästebuch, das neben dem Bedienpult aufgeschlagen liegt. "Die Lichterkirche ist sehr schön", schreibt etwa ein Paar, das vor 40 Jahren hier geheiratet hat. Das gleiche Feedback kommt von zwei Kindergartengruppen der Region, die sich auf der Seite daneben verewigt haben. Die ersten haben die Chance für einige ruhige Minuten bereits genutzt.