Moskau und der "Heilige Krieg": Wie Theologen auf Russland schauen
Das Bild ging Ende März auf dem Balkan durch die Medien: Drei hochrangige serbische Persönlichkeiten aus Kirche und Politik stehen vor einer Frühlingslandschaft und scheinen zu diskutieren. Neben dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic stand der oberste Vertreter der serbisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Porfirije Peric. Mit dabei war auch Milorad Dodik, Präsident des serbischen Teilstaats Bosnien-Herzegowinas. Laut offiziellen serbischen Regierungskanälen war es "eines der wichtigsten Treffen": Es wurden große Pläne geschmiedet, die zum orthodoxen Osterfest Anfang Mai mit dem Segen des obersten Kirchenmannes lanciert werden sollen. Dabei gehe es um wichtige Entscheidungen für das "Überleben" des serbischen Volkes, die vor allem das kulturelle Erbe und die serbisch-orthodoxe Kirche betreffen würden.
Beobachter spekulieren jedoch, dass es bei dem Treffen um viel mehr ging. Ob und welche Rolle Russland dabei spielt, ist unklar. Jedenfalls gebe es in der serbischen Gesellschaft den Mythos, Russland sei der "große Bruder" Serbiens, erklärte der kürzlich suspendierte serbisch-orthodoxe Priester und Theologieprofessor Vukasin Milicevic, eine der wenigen progressiven Stimmen in der Kirche, gegenüber katholisch.de. Der Mythos vom großen Bruder manifestiere sich manchmal "auf ganz bizarre Weise, vor allem wenn Geistliche dem russischen Präsidenten Putin und Russland Gedichte widmen", so Milicevic. Paradoxerweise gebe es in der serbischen Gesellschaft aber keine antiukrainische Stimmung.
Unklare Haltung
Die Haltung der serbisch-orthodoxen Kirche erscheint dabei unklar. Während der Patriarch noch 2022 kritisierte, dass dieser Krieg "zwischen unseren Brüdern, den Russen und Ukrainern", Leid und Spaltung in die Welt bringe, lassen öffentliche Auftritte und Äußerungen anderer hochrangiger Kleriker prorussische Ansichten erkennen. Eine Anfrage von katholisch.de bei der serbisch-orthodoxen Kirche in Belgrad zur Haltung zum Krieg blieb unbeantwortet.
Die Eparchie Zagreb-Ljubljana, die Gebiete in Kroatien, Slowenien und Italien umfasst und deren ehemaliger Metropolit der heutige Patriarch ist, äußerte sich auf Anfrage zurückhaltend. Man stehe politisch auf keiner Seite, denn die Kirche wolle sich nicht in politische Angelegenheiten einmischen, so ein Sprecher gegenüber katholisch.de. Man habe sowohl in Kroatien als auch in Serbien ukrainischen Flüchtlingen geholfen und verschiedene Hilfsaktionen organisiert, heißt es. Die Verbindung zur russisch-orthodoxen Kirche habe man nicht gekappt, genauso wenig wie die zur ukrainischen. Druck von oben gebe es dabei nicht, so der Sprecher.
Nach Ansicht des Kirchenkritikers Milicevic erweckt die serbisch-orthodoxe Kirche dennoch den Eindruck, sich öffentlich sehr prorussisch zu positionieren. Ein expliziter Druck seitens der staatlichen und kirchlichen Autoritäten Russlands sei daher nicht notwendig, so der Theologe – denn in der gegenwärtigen Situation reiche "soft power" aus, da kirchenintern "praktisch nichts diskutiert werden kann, vor allem keine sensiblen politischen Themen".
Milicevic selbst war lange Zeit Priester der serbisch-orthodoxen Kirche. Erste Probleme gab es bereits 2017, als er mit einer Gruppe von Theologen ein Papier unterzeichnete, das die Infragestellung der Evolutionstheorie durch die serbisch-orthodoxe Kirche scharf anprangerte. Die Kirchenleitung kritisierte dies scharf, Milicevic durfte aber unter Auflagen weiter an der Theologischen Fakultät lehren. Auch während der Covid-19-Pandemie kritisierte Milicevic liturgische Praktiken, die Infektionen begünstigten. Diese führten unter anderem zur Erkrankung und zum späteren Tod des damaligen Patriarchen Irinej im Jahr 2020. Noch vor seinem Tod suspendierte dieser jedoch den Kirchenkritiker und verbot ihm öffentliche Auftritte.
„Kirchenintern könne praktisch nichts diskutiert werden, vor allem keine sensiblen politischen Themen“
Damals hieß es noch: "Wer das Priestergewand trägt, darf ohne Zustimmung des Patriarchen nicht in den Medien auftreten". Viel hat sich nicht geändert, denn vor wenigen Wochen verlor Milicevic auch seine Dozentenstelle. "Die Serbisch-Orthodoxe Theologische Fakultät, an der ich mehr als die Hälfte meines Lebens verbracht habe, ist keine Institution mehr, in der man nicht nur frei und gewissenhaft wissenschaftlich arbeiten, sondern auch frei und verantwortlich denken und sich äußern kann", sagt er.
Diese innerkirchliche Haltung zeige sich auch in der Politik gegenüber Russland. Mit Ausnahme einiger Bischöfe schweige der Rest des Episkopats, man vertrete in vielen Fragen zunehmend neokonservative Positionen. Die Frage, ob die serbisch-orthodoxe Kirche daran arbeiten müsse, Serbien stärker an Europa und seinen Werten auszurichten, bejaht Milicevic.
Halik: Weltkirchenrat sollte russisch-orthodoxe Kirche auschließen
Kritik an der Haltung kam auch von evangelischer Seite. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien hätten gezeigt, dass Menschen und nicht nationale Ideen verteidigt werden müssten, sagte der evangelische Theologe und Publizist Zoran Grozdanov vom Universitätszentrum für protestantische Theologie in Zagreb. Denn die einfachen Menschen seien immer "Opfer imperialer Ideen". Es zeige sich, so Grozdanov, dass sowohl die russische als auch die serbisch-orthodoxe Kirche mehr dem "Gott der Nation" folgten als dem "Gott des Neuen Testaments". Und weiter: "Von Papst Franziskus bis zum Lutherischen Weltbund zeigt sich, dass die Kirchen aus ihrer Geschichte gelernt haben und den Menschen zur Seite stehen und sich für den Frieden einsetzen, anstatt Konflikte zu schüren und an dieser Ideologie festzuhalten".
Dazu gehört auch die Abgrenzung von der russisch-orthodoxen Kirche – vor allem nach den jüngsten Äußerungen in dem Ende März verabschiedeten Grundsatzdokument des so kirchen- wie staatsnahen "Weltkonzils des Russischen Volkes" (WKRV). Darin wird eine staatliche Unabhängigkeit der Ukraine kategorisch ausgeschlossen. Weiter heißt es, der Krieg Russlands sei aus "spiritueller und moralischer Sicht ein Heiliger Krieg", bei dem es um die angebliche Verteidigung Russlands gegen den "Ansturm des Globalismus und des Westens" gehe, der "dem Satanismus verfallen" sei.
Vorsitzender des WKRV ist der Moskauer Patriarch Kyrill. Deshalb vermutet der Ostkirchenexperte Reinhard Flogaus in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, dass Kyrill einer der Hauptautoren der Erklärung ist. Ökumenisch habe sich die Moskauer Kirchenleitung damit endgültig disqualifiziert, meint Flogaus, zumal sie den russischen Bombenterror als "Heiligen Krieg" bezeichne.
Dieser Meinung ist auch der katholische Theologe Thomas Halik. "Es ist notwendig, die russisch-orthodoxe Kirche sofort aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen auszuschließen", sagte er gegenüber katholisch.de. Halik gilt als einer der bedeutendsten katholischen Intellektuellen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Der Tscheche wurde zu Zeiten des Kalten Krieges im Untergrund zum Priester geweiht. Der heute an der Prager Karls-Universität lehrende Soziologieprofessor wirft dem Weltkirchenrat mangelnden Mut vor. In einer kürzlich veröffentlichten Erklärung hat der Weltkirchenrat den Moskauer Patriarchen schriftlich um Klärung gebeten, ob das Dekret Ausdruck der Position der russisch-orthodoxen Kirche sei und wie eine solche Position von einer Mitgliedskirche des Ökumenischen Rates vertreten werden könne. Man distanzierte sich zwar von den Äußerungen über den "Heiligen Krieg", ohne jedoch weitere Maßnahmen zu ergreifen, kritisiert Halik.
Internationale Lage ernst
Der katholische Theologe sieht die Moskauer Kirchenleitung als "Marionette eines kriminellen Regimes, das in der Ukraine einen Völkermord begeht und einen massiven Propagandakrieg gegen die gesamte demokratische Welt führt". Dabei ziele die russische Propaganda besonders auf konservative Christen, "die seit jeher eine Affinität zu autoritären Regimen und eine Abneigung gegen die liberale Demokratie haben", so Halik. Und weiter: "Die von Russland unterstützten Populisten haben in Ungarn und der Slowakei gewonnen, bereiten sich nun auf die Parlamentswahlen in der Tschechischen Republik im nächsten Jahr vor und setzen natürlich auf einen Sieg von Donald Trump und das Ende der atlantischen Zusammenarbeit".
Die internationale Lage sei sehr ernst, erläutert Halik, aber Christen müssten die Fähigkeit zeigen, nicht in Angst und Panik zu verfallen. Feindesliebe bedeute, den Aggressor daran zu hindern, Böses zu tun, wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Fratelli tutti" betont habe – oder, wie Halik es beschreibt – "ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen". Ob und wann sich die orthodoxen Kirchen dieser Aufgabe stellen werden, ist offen. Die serbisch-orthodoxe Kirche scheint allerdings politisch eher auf Passivität zu setzen. Auch das katholische Erzbistum Belgrad reagierte nicht auf mehrfache Anfragen von katholisch.de. Dabei hatte dessen Erzbischof noch zu Ostern 2023 den Krieg in der Ukraine als "teuflisches Übel" bezeichnet und betont, dass zur Gerechtigkeit Jesu auch die Gerechtigkeit der Menschen untereinander gehöre.