Wagt den Schritt von der Gemeinde- zur Kommunikationspastoral!
Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6), an der erstmals auch die Katholische Kirche in Deutschland beteiligt war, hat in diversen Zirkeln der Praktischen Theologie für reichlich Alarm gesorgt. Dabei unterstreichen die empirischen Daten nur, was als Großtrend aus vorangegangenen Studien längst bekannt war: Religiöse Praktiken sind insgesamt rückläufig und die Mehrheit der Bevölkerung stuft sich selbst als nicht religiös ein. Die Daten zeigen ungeschönt das Ausmaß religiöser Gleichgültigkeit. Für mittlerweile 56 Prozent der Deutschen besitzt Religiosität gleich welcher Art keine bzw. nur noch eine verschwindend geringe Relevanz für die Lebensführung. Nehme man dies ernst, sagt der Utrechter Pastoraltheologe Jan Loffeld, verschöben sich nicht nur theologische Gedankengebäude. Auch die Koordinaten der Seelsorge veränderten sich von Grund auf.
Genau dies wäre genauer in den Blick zu nehmen. Zu den ersten Schritten einer Erfolg versprechenden Sanierung gehörte meines Erachtens der Mut, die lange geltenden Etikettierungen des Säkularisierungsnarrativs zu hinterfragen, dass nämlich "Modernisierung" der Religion den funktionalen Nährboden entziehe und so letztlich negativ beeinflusse. Als Gegenbeispiele werden gern die religiös vitale USA, die religiöse Renaissance in den Staaten des ehemaligen Ostblocks oder die Pfingstbewegung in Lateinamerika genannt, die zeigen sollen, dass Modernisierung und religiöse Vitalität durchaus Hand in Hand gehen können.
Beide Argumentationsstränge führen ein grundsätzliches Missverständnis mit sich. Sie quantifizieren, wo neu zu qualifizieren wäre. Wie sollen quantitative Methoden die hochindividualisierten und hybriden Sozialformen des Religiösen heute plausibel erfassen? Was sich gewandelt hat, sind ehemals dominante, vor allem kirchengebundene Formen des Religiösen hin zu stark privatisierenden, patchworkartig-fragilen Ausdrucksformen.
Religion ist nach wie vor lebendig
Was sich hier zeigt, ist zunächst, dass Religion lebendig ist. Und dass eine weithin "unsichtbar" gewordene Religion die Folge vielfältiger kultureller Transformationen ist, in deren Verlauf Transzendenzkonzeptionen nicht einfach verschwinden, sondern sich langsam umbilden. Ein Beispiel aus der aktuellen KMU: "Zwei Drittel der Kirchenmitglieder teilen kein spezifisch christliches Gottesbild." Aus konfessioneller Perspektive ist dies ein Besorgnis erregender Wert. Wie konnte das passieren? Ist da beim Taufen was schiefgelaufen? Haben Predigtamt und Religionsunterricht versagt?
Aus guten Gründen zerbrechen gerade unsere Kirchen-, Lehr- und Heiligungskonstrukte: eine konfessionelle Dekonstruktion, die den Glauben der Kirche auf seine Brüche, Spannungen und Widersprüche befragt, ohne ihn deshalb gleich verabschieden zu wollen. Kirchlicher Glaube ist ja – wo er in Hochburgen angeblich sicherer Gewissheiten sich zu Hause wähnt – selbst immer schon ein Widerspruch in sich. Spannungen und Widersprüche aber sind grundsätzlich konstruktiv, weil sie die Wirklichkeit des Glaubens als dessen latente innere Dynamik immer schon begleiten.
„Die Auflösung der volkskirchlich-konfessionellen Struktur ist zugleich ihre größte Chance, weil sie dazu zwingt, Gott zuvörderst nicht (mehr) in kirchlichen Milieus, sondern wieder mitten im Leben zu suchen.“
(Theo-)Logische Konsequenzen
So ist es längst überfällig, nicht länger Symptome zu kurieren, sondern auf den Grund einzelner Problemanzeigen vorzudringen.
- Die Unterscheidung zwischen einer "weltlichen" und einer "religiösen Sphäre", wie sie im Mittelalter politisch sinnvoll war, ist seit langem obsolet. Sie sollte aufgegeben werden. Religion ist ein Aspekt des Weltlichen. "Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser" (P. Éluard). Und die Frage nach ihrer Rolle und Relevanz ist eine inter- und transdisziplinär stets neu zu bestimmende. Etwas oder jemandem zu glauben ist nicht auf einen religiösen Deutungsraum angewiesen oder auf eine religiöse Sphäre abonniert. Der Mensch kann nicht nicht glauben. Glaubensvollzüge welcher Art auch immer stehen in enger Beziehung zu Emotionen und Kognitionen. Der Frage, wie man die innere Dynamik von Glaubensvorgängen verstehen kann, widmen sich inzwischen so unterschiedliche Disziplinen wie Religionswissenschaft, Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaft.
- Es braucht einen kritischen Einspruch gegen die traditionelle Doktrin eines wie auch immer gewandeten Theismus. Gott ist keine substanzhafte Größe, keine metaphysische Ergänzung der Welt im Sinne eines zur Welt hinzuaddierten Agenten. Eine Umstellung vom Denken in Substanzen zu einem Verstehen in Beziehungen und Sichtweisen tut not. Ich weiß: Das ent-rüstet. Sie nimmt uns das Gefühl von Sicherheit. "Glauben" ist eine besondere Art des Verstehens. "Gott glauben" ist eine unerlässliche und doch nur eine von vielen divergenten Perspektiven auf eine gemeinsame Welt. Christlich gesprochen: "In Jesus Christus ist die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen" (D. Bonhoeffer). Interessant finde ich die Frage nach den Beweggründen für Gottesbilder, bei denen auch heute noch an einem "personalen" Transzendenzbezug festgehalten wird.
- Aus den beiden genannten Einsprüchen – es wären weitere noch zu ergänzen – ergeben sich unmittelbar pastoralpraktische Perspektiven. Seit Bonhoeffer können wir wissen, dass die Zeit großkirchlich-konfessioneller Religion zu Ende ist und wir zumindest im Westen "einer völlig religionslosen Zeit entgegengehen". Es wäre falsch, sie als gottlos abzutun. Die Auflösung der volkskirchlich-konfessionellen Struktur ist zugleich ihre größte Chance, weil sie dazu zwingt, Gott zuvörderst nicht (mehr) in kirchlichen Milieus, sondern wieder mitten im Leben zu suchen. Die Dynamik persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen hat längst zu neuen, unkonventionellen Mustern der Verbindung von Religion und Kultur geführt. Diese Muster werden nahezu ausschließlich inmitten profaner Lebenswelten gebildet und "Individualisierte Religiosität" wird daher auch zukünftig – mehr noch als bisher – darauf aus sein, inhaltlich variabel und konfessionell unabhängig bleiben zu wollen. Genau hier liegt eine große, ernsthafte Chance und Verpflichtung der Kirchen: als Migrantinnen in diese profanen Lebenswelten einzuziehen, in sie hinein sich kommunikativ zu entfalten und so äußerlich wie innerlich selbst zu erneuern.
Erneuerung – "ecclesia semper reformanda" könnte pastoralpraktisch bedeuten: eine (noch) stärkere Umgewichtung von klassischer Gemeindepastoral hin zu einer konfessions-, in Metropolen auch religionsübergreifenden Kommunikationspastoral. Das hieße, nicht mehr primär dem Paradigma der Versorgung, sondern der Logik der Beteiligung und Vernetzung zu folgen. Dies bräuchte neue Initiativ- und Kreativräume, auch liturgisch. Deren Katholizität wäre daran abzulesen, inwiefern sie als Hinwendung zum gemeinschaftsstiftenden Kern des Evangeliums Jesu spürbar und "genießbar" würden. An die Stelle konfessioneller Enge träte auf lange Sicht ein breiterer und tieferer Dienst der Verständigung und Versöhnung, nicht zuletzt im Innerkirchlichen selbst.
Erneuerung dieser Art ist ein Plädoyer für "tiefe Diesseitigkeit", die "Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern […] die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, […] den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht 'madig macht', sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert" (D. Bonhoeffer).