Standpunkt

Haben wir uns in binnenkirchliche Schutzräume zurückgezogen?

Veröffentlicht am 15.05.2024 um 00:01 Uhr – Von Jan-Heiner Tück – Lesedauer: 

Bonn ‐ Das Sprachenwunder in Jerusalem habe damals verängstigte Menschen zu begnadeten Kommunikatoren gemacht. Doch wie sieht es heute an der Schwelle zum Pfingstfest aus, fragt Jan-Heiner Tück – und kommentiert, was heute für eine Erneuerung wichtig ist.

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Das Interim zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten ist eine besondere Zeit. Der eine ist gegangen, der andere noch nicht gekommen. Wie der Karsamstag zwischen dem Tod am Kreuz und der Auferstehung an Ostern ein Schweigen setzt, so ist das Interim zwischen Himmelfahrt und Pfingsten eine Pause der Erwartung. Der Auferstandene ist vor den Augen seiner Jünger in einer Wolke entschwunden, der Beistand aber, den er verheißen hat, steht noch aus. Für die, die zurückbleiben, eine Zeit des Wartens und der gesteigerten Wachsamkeit.

Nach dem Bericht der Apostelgeschichte herrschen Angst und Verzagtheit vor. Die Jünger versammeln sich hinter geschlossenen Türen. Unklar ist, ob der Heilige Geist, der bei der Taufe Jesu in Gestalt einer Taube auf ihn herabkam, bald auch auf sie selbst herabkommen wird. Der Verdacht stellt sich ein, dass alles nur eine leere Ankündigung gewesen sein könnte. Was aber, wenn der Geist kommen und sie befähigen würde, Angst und Verzagtheit hinter sich zu lassen und die Türen aufzustoßen? Es würde möglich, was vorher unmöglich schien – die angstfreie Kommunikation des Glaubens, die Barrieren überwindet und andere überzeugt.

Wie sieht es an der Schwelle zum Pfingstfest bei uns heute aus? Haben wir uns in binnenkirchliche Schutzräume zurückgezogen? Warten wir noch auf den "Meister des Unmöglichen" (Christoph Schönborn), der Barrieren überwinden und Verständigung ermöglichen kann? Oder haben wir längst aufgehört, mit dem Einbruch des Unberechenbaren zu rechnen? Dabei wäre es wünschenswert, wenn ein Brausen die unter der Asche verborgene Glut neu entfachen, sein Wirken das lähmende Unverständnis zwischen uns überwinden könnte.

Das Fremdsprachenwunder, die "Xenoglossie", in Jerusalem hat aus verängstigten Menschen begnadete Kommunikatoren gemacht, die ein jeder in seiner Muttersprache verstehen konnte. Ein Pfingstwunder wäre es, wenn eingefleischte Missverständnisse und kopfschüttelnde Unverständnisse durch den "Meister des Unmöglichen" in Verständigung verwandelt werden könnten. Ohne Wachsamkeit und pneumatischen Möglichkeitssinn keine Erneuerung: Veni, sancte spiritus!

Von Jan-Heiner Tück

Der Autor

Jan-Heiner Tück ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Außerdem ist er Schriftleiter der Zeitschrift Communio und Initiator der Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.