Der Blitz, der die Welt veränderte – Luthers Erfurt
"Erfurt liegt am besten Orte, ist eine Schmalzgrube, da muß eine Stadt stehen, auch wenn sie gleich wegbrennte" – so erinnerte sich Martin Luther später in einer seiner Tischreden an seine alte Universitätsstadt zurück. So romantisch der Blick auf die zu seinen Studentenzeiten prosperierende Stadt scheint: Erfurt war für Luther auch ein Ort der Lebenskrise – eine Lebenskrise, die die Geschichte Europas und der ganzen Welt verändern sollte. 1501 war das noch nicht absehbar. Zum Sommersemester hatte sich ein "Martinus Ludher ex Mansfelt" als Student der Sieben Freien Künste an der Artistenfakultät der Erfurter Universität eingeschrieben – die Matrikel sind wohl der früheste schriftliche Beleg Luthers.
Nicht nur seinen akademischen Grundstock an Wissen hat Luther in Erfurt gesammelt. Ohne Erfurt wäre die Reformation wohl ganz anders verlaufen. Auf einem Acker bei Stotternheim, heute ein Stadtteil von Erfurt, erlebte Martin Luther das schicksalhafte Gewitter, das sein Leben auf den Kopf stellte. Am 2. Juli 1505 überraschte den damals 21-jährigen Jurastudenten ein schweres Gewitter. Gerade war er auf dem Heimweg von seiner Elternstadt Mansfeld nach Erfurt. Gerade hatte er seine akademische Grundausbildung mit einem Magister artium abgeschlossen, das Jurastudium hatte er auf Wunsch seines Vaters aufgenommen.
Ein Gelübde führt Luther in eine neue Lebenskrise
Doch das Gewitter änderte für Luther alles: In Todesangst versprach er der heiligen Anna, Mönch zu werden, wenn er nur gerettet werde. Luther überlebte. Zwei Wochen später klopfte er im Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt an und bat um Aufnahme, lebte dort zunächst als Gast und wurde im Herbst als Novize aufgenommen. Seine karge Klosterzelle kann man heute noch – nach einigen Zerstörungen wieder restauriert – im Augustinerkloster in Erfurt besichtigen. Luther hört ab 1507 theologische Vorlesungen im Dom zu Erfurt, unterbrochen vom Wintersemester 1508/1509 in Wittenberg, wohin er 1511 endgültig wechselt, um dort im Jahr darauf sein Studium mit dem Doktorexamen abzuschließen. Ab da kommt er zwar immer wieder, aber jeweils nur für kurze Zeit zurück nach Erfurt.
Später deutete Luther seine Zeit im Augustinerkloster als gottgewollten Irrweg. Gott habe ihm zeigen wollen, wie es im Kloster zugeht. Nicht, um selbst ein mustergültiger Mönch zu werden, sondern um die Missstände am eigenen Leib kennenzulernen: "Die gottlosen Menschen sollten keine Gelegenheit erhalten, von mir als ihrem zukünftigen Gegner hochfahrend zu behaupten, ich verdammte Dinge, die ich nicht kennte", schreibt er Jahre später in der Vorrede seiner Schrift über die Mönchsgelübde.
Im Kloster wollte sich Luther seine Erlösung erbeten. Seine existentielle Lebensfrage "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" trieb ihn schon als Mönch um. So sehr er betete und fastete und beichtete, die Angst blieb, vor Gottes Augen nicht würdig zu sein. Dass die Frage nach der Rechtfertigung vor Gott so zentral in Luthers Werk ist, ist in dieser Erfurter Klosterzeit angelegt. "Fundamental gilt es festzuhalten, dass es eine lutherische Reformation wahrscheinlich nie gegeben hätte, wenn Luthers Seelennot und Gewissenskonflikt hier im Augustinerkloster von seinen Beichtvätern in einer zeitgemäßen Weise hätten aufgelöst werden können", schreibt der Erfurter Kirchenhistoriker Andreas Lindner dazu.
Humanismus in Erfurt
Es war aber nicht nur die existentielle Angst Luthers im Kloster, die zu einer besonderen Bedeutung von Erfurt für sein Leben und die Geschichte der Reformation führten. Erfurt war auch ein Ort, an dem er mit dem Humanismus in Kontakt kam. Im Kloster lernte und vertiefte er die alten Sprachen Hebräisch und Griechisch zusätzlich zur lingua franca der damaligen akademischen Welt, dem Lateinischen.
Viel später, als er schon in Wittenberg war, wollte er doch an der theologischen Fakultät in Erfurt über die hergebrachte scholastische Theologie des Mittelalters diskutieren. An der Erfurter Universität ignoriert man 1517 seinen Wunsch nach einem Disput über die "Thesen gegen die scholastische Philosophie", so wie man kurz darauf auch seine Ablassthesen ignorierte. Dennoch sollte er später die Erfurter Universität "meine Mutter, der ich Ehrerbietung schulde", nennen.
Mit der Zeit wurde Erfurt zu einem Schauplatz des Streits zwischen Scholastikern und Humanisten. Die Humanisten gewannen immer mehr Land, die Universität wurde im humanistischen Geist reformiert. 1519 wurde ein Griechisch-Lehrstuhl eingerichtet, nur ein Lehrstuhl für Hebräisch kam nicht zustande. 1521 kam Luther noch einmal für drei Tage in die Stadt. Die Augustinerkirche konnte die Menge an Interessierten kaum fassen, die Luthers Predigt dort hören wollten. Das kurze Gastspiel – Luther war auf der Durchreise nach Worms zum Reichstag – fachte die Konflikte zwischen Bewahrern und Humanisten weiter an.
Die Reformation eskaliert – das Erfurter Pfaffenstürmen
Spätestens mit der Androhung des Kirchenbanns durch Papst Leo X., der Antwort auf Luthers 95 Thesen, wuchs die Gefahr für die Sympathisanten Luthers. 2021 vollzog der Papst die Exkommunikation mit seiner Bannbulle. Erfurter Studenten hatten sich Luthers Sache zu eigen gemacht und verteidigten ihn. Sie lauerten Luthers großem Gegenspieler, dem Theologen Johannes Eck, auf, der als Gesandter des Papstes nach Erfurt kam. Im Mai und Juni 1521 kam es zu Unruhen, den Erfurter Pfaffenstürmen: Studenten, Knechte, Bauern und niedrige Adlige protestierten gewaltsam gegen die Verhängung von Kirchenstrafen gegen drei Teilnehmer, die an einem Umtrunk mit Luther teilgenommen hatten. Unterschiedslos wüteten die Pfaffenstürmer und trafen dabei auch Geistliche, die eigentlich Sympathien für die lutherische Sache hegten. Luther, der sich unterdessen auf der Wartburg versteckte, kritisierte die Auswüchse zwar, zeigte aber auch Verständnis für den Protest.
In Erfurt kann man damit den Weg von einer humanistischen Bildungsreform zur Kirchenreform nachzeichnen: Neben die existentiellen Nöte von Luther in der Zeit, in der er selbst in Erfurt lebte und wirkte, treten die von ihm publizistisch und akademisch begleiteten und befeuerten Konflikte um die Reform der Universität durch Rückbesinnung auf die alten Quellen und die Überwindung der scholastischen Theologie, die immer mehr über die Wissenschaft hinaus Raum griffen. "Von hier nahm er seinen zentralen Lebenskonflikt mit, der ihn antrieb. Von hier brachte er seine Bildung mit. Hier wurden seine grundlegenden Einstellungen zu Kirche und Gesellschaft in ihren Anfängen geformt", resümiert der Kirchenhistoriker Lindner.