Wie die SED den Glauben aus den Herzen der Menschen sprengen wollte
Sie war die größte katholische Kirche Mecklenburgs und mit ihrem 68 Meter hohen Turm jahrzehntelang prägender Bestandteil des Rostocker Stadtbildes: die Christuskirche am Schröderplatz. 1909 im neogotischen Stil errichtet, war die Kirche der ganze Stolz der kleinen katholischen Minderheit in der Hansestadt – und blieb dies auch, nachdem sie im Zweiten Weltkrieg von alliierten Bomben schwer beschädigt und danach nur in vereinfachter Form wieder aufgebaut worden war. Für die Rostocker Katholiken war die Christuskirche ein Stück Heimat, viele hatten "ihr Herz an die alte Kirche gehängt", wie es Georg Diederich, ehemaliger Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns und Autor eines Buchs über das Gotteshaus, vor ein paar Jahren formulierte.
Und doch kam 1971 das Aus: Am 12. August sprengte das DDR-Regime das Gotteshaus und das benachbarte Pfarrhaus. "Schließlich gab es eine Detonation, und in wenigen Sekunden sank das große Gebäude, das mein 'Zuhause' war, in einer riesigen Staubwolke in sich zusammen. Bis der entwarnende Ton des Signalhorns zu hören war, wagte ich kaum zu atmen. Dann fragte ich mich, ob ich das alles vielleicht nur träume. Ich hatte noch nicht begriffen, dass die Kirche nur noch ein Trümmerhaufen war", erzählt die Augenzeugin Sigrid Englers in Diederichs Buch über den Moment der Zerstörung. Begründet wurde die Sprengung vom Regime mit stadtplanerischen Argumenten, angeblich war das Gotteshaus dem geplanten Bau einer neuen Hauptverkehrsstraße im Weg.
Ein wahrer Kirchensturm zwischen Ostsee und Erzgebirge
So wie der Rostocker Christuskirche erging es in der DDR auch vielen anderen Gotteshäusern. Vor allem zwischen den 1950er und 1970er Jahren veranstaltete das SED-Regime zwischen Ostsee und Erzgebirge einen wahren Kirchensturm. Ideologische Grundlage dafür waren die 1950 von der Regierung beschlossenen 16 Grundsätze des Städtebaus, mit denen die Städte der DDR im sozialistischen Sinne und nach sowjetischem Vorbild umgestaltet werden sollten. So sollten die Stadtzentren den politischen Mittelpunkt für das Leben der Bevölkerung bilden und architektonisch von den "wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten" geprägt werden. Zudem wurde festgelegt, dass die Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren "ausschließlich Angelegenheit der Regierung" war.
„Ja! Wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen.“
In einer Rede in Stalinstadt – dem heutigen Eisenhüttenstadt – verdeutlichte SED-Chef Walter Ulbricht am 7. Mai 1953 die Konsequenzen, die aus den Grundsätzen des Städtebaus auch für die jahrhundertelang stadtbildprägenden Kirchen folgen sollten: "Ja! Wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen." Kirchtürme waren nach dieser als "Turmrede" in die Geschichte eingegangenen Ansprache Ulbrichts in den Städten der DDR also nicht mehr vorgesehen – und Stalinstadt zeigte das exemplarisch, denn in der innerhalb von nur wenigen Jahren errichteten sozialistischen Musterstadt an der Oder gab es keine einzige Kirche und damit auch keinen Kirchturm.
Nach Ulbrichts Rede nahm der mit Dynamit und Presslufthammern geführte Kampf gegen die Kirchen in der DDR Fahrt auf – und machte auch vor historisch besonders bedeutsamen Gotteshäusern wie der Leipziger Universitätskirche St. Pauli (siehe Aufmacherbild) oder der Potsdamer Garnisonkirche keinen Halt. Insgesamt wurden im Laufe der Jahre durch das SED-Regime mindestens 60 Gotteshäuser dem Erdboden gleichgemacht. Betroffen waren dabei vor allem Kirchen in den großen Städten wie Ost-Berlin, Dresden oder Magdeburg, die naturgemäß besonders im Fokus der Machthaber und ihrer sozialistischen Umbaupläne standen. Doch auch in kleineren Städten wie Dessau, Halberstadt oder Nordhausen gab es Sprengungen, wie unter anderem eine Übersicht auf der privaten Internetseite kirchensprengung.de zeigt.
Auch wenn das Regime in den meisten Fällen wie in Rostock städtebauliche Begründungen für die Zerstörungen vorgab – in Wahrheit dürfte die kirchenfeindliche Ideologe des SED-Regimes der wesentliche Treiber für die Tilgung der Gotteshäuser aus den Stadtbildern gewesen sein. In seinem 2015 erschienenen Buch "Endspiel", einem Standardwerk über das Ende der DDR im Jahr 1989, schreibt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, dass den DDR-Machthabern bewusst war, dass die Kirchenbauten im Land ihren Ansprüchen auf totalitäre Herrschaft entgegenstanden."Denn überall zeugten Kirchtürme und Kirchenbauten davon, dass, anders als die Kommunisten behaupteten, 'Gott nicht tot ist'." Die Kirchen hätten allerorten schon aus der Ferne verkündet, dass die DDR auf gewachsenem historischen Grund stand, mehr als nur kommunistische Traditionen aufwies und zugleich viele Menschen anders lebten, dachten, glaubten als offiziell vorgegeben.
"So wie sie 1950 das Berliner Schloss allein aus ideologischen Gründen sprengen ließen, sind auch zahlreiche Kirchen niedergerissen, abgetragen, gesprengt worden", folgert Kowalczuk. Vor allem die Sprengungen der Universitätskirche in Leipzig und der Garnisonkirche in Potsdam ständen symbolisch für "kulturhistorische Freveltaten und den von der SED betriebenen Kirchenkampf". Ähnlich sieht das auch Prälat Josef Michelfeit. Bei einer Gedenkveranstaltung zum 48. Jahrestag der Sprengung der Rostocker Christuskirche sagte der Geistliche, der 1962 selbst in dem Gotteshaus zum Priester geweiht worden war: "Es ging diesen kommunistischen Machthabern letztlich nicht um den Baukörper Kirche bei dieser Sprengung, sondern man wollte den Glauben der Menschen aus ihren Herzen sprengen!"
Viele Sprengungen bewusst an Sonntagen
Für einen ideologischen Hintergrund der Kirchensprengungen spricht auch eine besondere Symbolik, auf die kirchensprengung.de hinweist. Demnach wurden einige der betroffenen Kirchen wie etwa die Potsdamer Garnisonkirche und die Berliner Gnadenkirche bewusst an Sonntagen um 10 Uhr und damit zum üblichen Beginn der Sonntagsgottesdienste gesprengt. Die Leipziger Universitätskirche gehört zwar nicht zu dieser Gruppe – sie wurde an einem Donnerstag zerstört –, allerdings gab es auch hier einen ideologischen Bezug. Die Sprengung fand nämlich am 30. Mai 1968 und damit genau eine Woche nach Christi Himmelfahrt statt. Und laut kirchensprengung.de äußerten SED-Funktionäre vor der Sprengung, dass man die Kirche diesem Feiertag entsprechend "in den Himmel" jagen wolle.
Was ebenfalls für die kirchenfeindlichen Motive der Machthaber spricht: Vielerorts wurden die als Begründung für die Sprengungen angeführten Städtebauprojekte später gar nicht oder nur teilweise verwirklicht. So auch in Rostock. Die dortige Magistrale, deren geplanter Bau als Erklärung für die Sprengung der Christuskirche gedient hatte, wurde nur zum Teil gebaut, der ehemalige Standort der Kirche diente stattdessen lange als Parkplatz. Erst 2012 wurde das Grundstück wieder bebaut – mit einem Hotel. In dessen Lobby und auf dem Platz vor dem Hotel zeichnen Pflastersteine im Boden heute den Grundriss des ehemaligen Gotteshauses nach, in unmittelbarer Nähe steht zudem ein kleines Mahnmal. "Dafür sind wir sehr dankbar, weil sie uns in unserer Erinnerung an diese Kirche stärken", so Prälat Michelfeit.