Säkularer mit Plädoyer für Gottesdienste: Jürgen Habermas wird 95
Er ist das, was man einen "öffentlichen Intellektuellen" nennt. In kaum einer großen Debatte fehlte die Stimme von Jürgen Habermas. Manche von ihnen hat er entscheidend mitgeprägt, etwa den Historikerstreit in den 1980er Jahren. Darin kritisierte er Ernst Noltes Versuch, die NS-Massenvernichtung mit dem Stalinismus zu vergleichen. An diesem Dienstag wird der Philosoph 95 Jahre. Auch in fortgeschrittenem Alter mischt er kräftig mit.
Im November 2023 veranlasste ihn das Hamas-Massaker vom 7. Oktober zur Unterzeichnung einer Stellungnahme, in der von einem "prinzipiell gerechtfertigten Gegenschlag" Israels die Rede ist. Kurz nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine rief Habermas in der "Süddeutschen Zeitung" zu Besonnenheit auf. Später warb er dafür, parallel zu einer militärischen Unterstützung der Ukraine Verhandlungen mit Russland anzustreben.
Seine Einlassungen sind keineswegs Konsens. So schimpfte der damalige ukrainische Botschafter Andrij Melnyk auf X: "Dass auch Jürgen Habermas so unverschämt in Putins Diensten steht, macht mich sprachlos. Eine Schande für die deutsche Philosophie. Immanuel Kant und Georg Friedrich Hegel würden sich aus Scham im Grabe umdrehen."
Philosoph der alten Bundesrepublik
Zur Welt kam Habermas 1929 in Düsseldorf. Einen Teil seines Studiums der Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutschen Literatur und Ökonomie absolvierte er ebenfalls am Rhein: in Bonn, einst Hauptstadt. Ohnehin gilt Habermas als der Philosoph der alten Bundesrepublik. Diese Entwicklung zeichnet Philipp Felsch in seinem neuen Buch "Der Philosoph. Habermas und wir" nach. Darin erklärt er auch, dass für Habermas Europa erst nach dem "historischen Abbruch des Experiments Bundesrepublik" eine maßgebliche Größe geworden sei.
1956 lud der aus dem Exil zurückgekehrte Theodor W. Adorno Habermas zur Mitarbeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt ein. Adorno bahnte ihm den Weg zur linken kritischen Gesellschaftstheorie der "Frankfurter Schule", deren Programm er weiterentwickelte. Habermas wollte Fundamente für eine der Demokratie verpflichtete Gesellschaftstheorie legen. Er verband die philosophische Analyse mit den modernen Sozialwissenschaften.
Während der Studentenbewegung der 1960er Jahre rückte Habermas ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Bedeutende Werke von ihm sind "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) und "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962/1990). Seine Schriften sind grundlegend für Philosophie und Soziologie, beeinflussten aber etwa auch die Linguistik. Habermas wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderen 2001 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
"Religiös unmusikalisch"
Obwohl er sich "religiös unmusikalisch" nannte, setzte sich Habermas intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Philosophie auseinander. Im Januar 2004 kam es in München zu einem ungewöhnlichen Streitgespräch über die "vorpolitischen Grundlagen" der Demokratie zwischen Habermas und Kurienkardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst. Trotz vieler Differenzen zeigten sich in dem Gespräch auch Nähen.
Lange war Habermas ein streng säkularer Denker, der religiöse Ansprüche zurückwies. Mit 90 Jahren veröffentliche er dann eine monumentale Geschichte der Philosophie, in der er die Bedeutung des Glaubens für das Wissen untersuchte.
Sein Fazit: "Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern." Die moderne Philosophie hat also doch einen zentralen Berührungspunkt mit dem religiösen Bewusstsein – um eine Verkümmerung der Vernunft abzuwehren.
Für Habermas spielt der "rituelle Kern des Gottesdienstes" für "das Überleben der Religion eine wichtige, wenn nicht ausschlaggebende Rolle". Ihn sorgt, dass mit dem Verschwinden liturgischer Feiern eine unersetzbare Quelle von Solidarität in der Gesellschaft versiegen könnte. Mit dem Plädoyer für Sonntagsgottesdienste hat Deutschlands führender Intellektueller viele überrascht.
Vom Idealisten zum Fatalismus
Er lebt mit seiner Frau am Starnberger See. Dort hat ihn Felsch besucht und stellt fest: Habermas male ein düsteres Szenario vom Abstieg des Westens, der nicht zu trennen sei vom "Niedergang der politischen Institutionen in den USA". Zu seinen Hoffnungen auf weltbürgerliche Verhältnisse habe er gesagt: "Das alles ist Vergangenheit." Es sei bestürzend, den "letzten Idealisten" Habermas insgesamt so fatalistisch zu erleben, so Felsch.
Habermas betrachte es als Glücksfall, "in den USA, in Israel und auch in Deutschland so vielen bedeutenden jüdischen Gelehrten begegnet zu sein". Felsch wertet dies als Bilanz: Habermas habe, seitdem er in den Umkreis des Instituts für Sozialforschung geraten sei, die Perspektive der jüdischen Überlebenden "als unabdingbaren Bezugspunkt betrachtet, um an das unvollendete Projekt der deutschen Philosophie anschließen zu können".