Der Österreicher wurde oft vereinnahmt

Zwischen Kirche und Komposition: Anton Bruckner feiert 200. Geburtstag

Veröffentlicht am 04.08.2024 um 12:00 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 

Wien/Luzern ‐ In diesem Jahr feiert der österreichische Komponist Anton Bruckner seinen 200. Geburtstag. Manchen gilt er noch immer als der kirchenfromme Tonsetzer, der seine Musik für spirituelle Bekenntnisse nutzte. Doch das wird der komplexen Persönlichkeit Bruckners nicht gerecht.

  • Teilen:

Wenn Professor Bruckner gerade eine Vorlesung hielt und es zum Angelus läutete, dann unterbrach der Komponist die Veranstaltung, betete und machte erst danach weiter. Das ist nur eine der zahlreichen Schrullen, die von Anton Bruckner (1824-1896) überliefert sind und einerseits bezeugen, dass er auch zu Lebzeiten schon als Sonderling galt und andererseits unterstreichen, welch wahrnehmbare Rolle der eigene Glaube für seinen Alltag spielte. Aber macht ihn das auch zu einem "katholischen" Komponisten? Zum 200. Geburtstag des Österreichers eine Tour de force durch Leben und Werk des Charakterkopfes.

Bruckner kam vom Land, Ansfelden, um genau zu sein, im Linzer Umland. Prägend wurde für ihn das Stift Sankt Florian ganz in der Nähe, wo er Sängerknabe war und in Musik unterrichtet wurde. Aus diesem Umfeld nahm er zwei Prägungen in sein Leben mit: Da war das ländliche Umfeld und die dort übliche tiefe Religiosität. Von Ansfelden aus arbeitete sich Bruckner sozial und künstlerisch nach oben und schaffte es bis nach Wien, die für damalige Verhältnisse bereits säkulare Metropole. Der Provinzler und der Katholik blieb er.

Über Bruckners Glaubenspraxis führte der Komponist Buch: So bestand sein Abendgebet am 20. März 1882 aus vier Rosenkränzen, 19 Vaterunser, neun Ave Maria, vier Glaubensbekenntnissen und zwei Salve Regina. "Für seine Zeit und seine soziale Herkunft war seine Frömmigkeit nichts Besonderes", sagt der Luzerner Musikwissenschaftler Felix Diergarten, der zum Geburtstag eine Bruckner-Biografie vorgelegt hat. Das regelmäßige Gebet und die spirituelle Verbundenheit waren auf dem Land Allgemeingut, nur in der Stadt fielen sie auf. Dort traf Bruckner auf eine für diese Zeit prägende polarisierte Kulturöffentlichkeit: Es war die Zeit, in der die musiktheoretischen Konzepte Richard Wagners für Aufsehen sorgten, einer Musik, die etwas ausdrückt, die ein Programm hat. Demgegenüber standen die Bewahrer um Brahms, die sich für traditionelle Formen wie die viersätzige Sinfonie stark machen, deren Kosmos sich lediglich um die Musik an sich und nicht um Außermusikalisches drehen sollte.

Kaisertreuer Katholik in der Wagner-Nachfolge

Da hinein trat mit Bruckner jemand, der einerseits ein konservativer kaisertreuer Katholik war, dessen Musik jedoch in der wagnerianischen Nachfolge steht. Dementsprechend unterschiedlich wurde seine Arbeit in der Kritik aufgenommen: Die einen sahen in ihm den Wagner-Epigonen, die anderen das Bollwerk gegen den progressiven Republikanismus. "Die Diskussion um seine Musik bekommt mit der Zeit immer mehr politische Töne", sagt Diergarten. "Irgendwann geht es dann gar nicht mehr um Musik, sondern nur noch um Kulturkampf."

Ein Blick in Bruckners Partituren zeigt, dass er es den Nachfolgegenerationen mit einer Einordnung nicht einfach macht. Denn zwar weiß man heute, dass er ein religiöser Mensch war, aber ob das seine Musik beeinflusst hat, lässt sich nicht so einfach nachweisen – er selbst hat sich Zeit seines Lebens nämlich nicht dazu geäußert. Zwar schrieb Bruckner vor allem in der ersten Hälfte seines Lebens Messen und zitiert an einzelnen Stellen auch eigene geistliche Werke in seinen Sinfonien, das allein sagt jedoch nichts. Diergarten zieht dazu den Vergleich zum französischen Komponisten Hector Berlioz. "Der hat wunderschöne Kirchenmusik geschrieben, war aber bekennender Atheist", sagt er. "In dieser Zeit gehörte es zum Metier eines guten Komponisten, religiös klingen zu können, ohne unbedingt religiös zu sein." Dazu kommt: In seiner zweiten Lebenshälfte schrieb Bruckner kaum noch geistliche Werke, er verstand sich explizit als Sinfoniker. Dies sei "stets mein Lebensberuf" gewesen, schrieb er, als ihm zum 60. Geburtstag die Ehrendoktorwürde der Universität Wien überreicht werden sollte. Unter geistliche Werke setzte häufig die Formel "Ad maiorem Dei gloriam", nicht aber unter Sinfonien. Womöglich hatte er vor, die Wendung unter seine neunte Sinfonie zu schreiben. Doch sie wurde zu seinen Lebzeiten nicht mehr fertig.

Bild: ©picture alliance/WERNER KERSCHBAUMMAYR/fotokerschi/picturedesk.com

Das Stift St. Florian nahe Linz in Oberösterreich prägte Bruckner nachhaltig.

Wenn bei manchen Passagen seiner Werke also Referenzen auf den Gregorianischen Choral oder die klassische Vokalpolyphonie eines Giovanni Pierluigi da Palestrina durchscheinen, kann das auch schlicht Handwerk sein. Explizite Bekenntnisse zur eigenen Musik gibt es nicht – und wenn er doch etwas dazu schreibt, dann in Briefen, deren werblicher Charakter eindeutig ist, sagt Diergarten.

Auf der Suche nach Protegés

Das hatte auch mit der Situation zu tun, in der Bruckner war: Er brauchte Protegés. Von den Brahms-Verehrern hatte er nichts zu erwarten, von den Neudeutschen auch nicht. Also war die konservativ-kaisertreue Nische sein Spielfeld. Da kam auch sein Katholizismus gut an, er galt als einer von altem Schrot und Korn. "Solche Überlegungen hat er schon gemacht, ich würde ihm da aber keinen Zynismus unterstellen. Er ist er selbst geblieben", so Diergarten.

So oder ähnlich hielten es auch viele Zeitgenossen. Denn: So ganz trennen ließen sich kirchliche und öffentliche Welt nicht. So war etwa Bischof Franz Joseph Rudigier, Bruckners Dienstherr in Linz und ein kämpferischer Katholik, der wegen seines Protests gegen Säkularisierungsgesetze zeitweilig in Kerkerhaft kam, nicht böse, als Bruckner seine fünfte Sinfonie dessen kulturkämpferischen Rivalen, dem Unterrichtsminister Karl von Stremayr, widmete – mit Blick auf mögliche Karriereoptionen. Der Bischof ermutigt und bestärkt den Komponisten sogar darin. Geistlicher wie Minister waren im Streit um die Rolle des Religionsunterrichts – sich aber auch dessen bewusst, dass jemand wie Brucker sein Auskommen sichern musste.

Bild: ©picture alliance/CHROMORANGE/Weingartner-Foto

Dass die Katholiken Bruckner für sich entdeckten, begann erst im 20. Jahrhundert.

Es ist also alles nicht so einfach, wie es zunächst scheint. Das lässt sich auch über die Aufnahme von Bruckners Musik in katholischen Kreisen sagen. Denn die waren oft keine Fans des Komponisten. Denn der Klang wie der religionsferne Wagner und gar nicht wie die Komponisten des Cäcilianismus, einer innerkirchlichen Musikbewegung, die sich als Gegenpol zur Aufklärung auf die Musik eines Palestrina zurückbesinnen wollte. Bruckner stand ihr skeptisch gegenüber, war also nicht anschlussfähig.

Wechselnde Vereinnahmungen

Dass die Katholiken Bruckner für sich entdeckten, begann erst im 20. Jahrhundert. So wie der Streit um die musiktheoretische Ausrichtung durch neue Entwicklungen verblasste, war man vielmehr froh, einen Katholiken als Komponisten von Weltrang zu haben. In der Zeit des Faschismus wurde Bruckner wiederum gänzlich kirchenfern vereinnahmt. Als Joseph Goebbels am 6. Juni 1937 in der Walhalla in Donaustauf eine Büste des Komponisten einweihte, sagte er: "Wir alle fühlen und wissen, dass seine tiefe Gottgläubigkeit längst alle konfessionellen Schranken gesprengt hat", vielmehr wurzele sie in einem "heldischen Weltgefühl des germanischen Menschentums". Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bruckner dann wieder zum Katholiken umgedeutet. Anders als bei Wagner hat die NS-Zeit seinen Ruf nicht allzu sehr beschädigt, sagt Diergarten: "Bei Bruckner ist klar, dass das alles Vereinnahmungen sind – Wagner hat den Nationalsozialismus ja auch inhaltlich direkt beeinflusst."

Als Erkenntnis bleibt: Ein Katholik, der auch Musik gemacht hat, war Bruckner auf jeden Fall; ein Komponist, der katholisch war, ebenso. Doch beides in einen direkten Zusammenhang zu bringen, mag verführerisch sein, macht die Welt aber zu einfach. "Natürlich wird sich das gegenseitig bedingt haben. Jemand, der die ganze Zeit von katholischer Symbolik umgeben ist, bleibt davon nicht unberührt", sagt Diergarten. "Aber es fehlen uns die Anhaltspunkte, um konkrete Aussagen zu machen." Da machen es Komponisten wie Johann Sebastian Bach der Nachwelt einfacher, die schlicht aufschreiben, dass sie ihre Musik als Glaubenszeugnis empfinden. Doch so jemand war Bruckner nicht, er wusste um die Sphären des Beruflichen und Privaten. Da war er schon ganz modern.

Von Christoph Paul Hartmann