Provinzialminister über die Missbrauchsstudie der Franziskaner-Minoriten

Ordensoberer: "Jeder einzelne Fall macht mich wütend und betroffen"

Veröffentlicht am 27.06.2024 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Würzburg ‐ Die kürzlich veröffentlichte Studie über Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Franziskaner-Minoriten schockiert. Provinzialminister Andreas Murk nimmt im Interview mit katholisch.de dazu Stellung und erklärt den Umgang mit einem noch lebenden beschuldigten Täter.

  • Teilen:

Erst kürzlich hat die Ordensgemeinschaft der Franziskaner-Minoriten in Deutschland eine umfangreiche Studie über Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Ordensbrüder in den letzten Jahrzehnten vorgelegt. Bruder Andreas Murk ist Provinzialminister der Franziskaner-Minoriten und erklärt im Interview mit katholisch.de, welche Ergebnisse der Studie ihn besonders schockiert haben und was er sich durch die vorgelegte Untersuchung erwartet. Er erklärt auch, warum einer seiner Mitbrüder, ein Pater, der wegen Missbrauch an Minderjährigen bestraft wurde, noch immer Träger des Bundesverdienstkreuzes ist.
   
Frage: Bruder Andreas, die Franziskaner-Minoriten in Deutschland haben erst kürzlich eine Studie über Missbrauch im Orden vorgelegt. Warum erst jetzt?

Bruder Andreas: Als 2010 Pater Klaus Mertes die Missbrauchsvorwürfe am Canisiuskolleg in Berlin öffentlich machte, war ich davon überzeugt, dass das Thema meinen Orden nicht betrifft. Damals war ich erst kurz im Kloster, direkt nach dem Studium und erst am Hineinwachsen in die Gemeinschaft. Doch ich habe mich geirrt: Missbrauch gab es auch bei uns. Wir haben diese Unabhängige Untersuchung im Frühjahr 2022 in Auftrag gegeben, aus der Überzeugung heraus, dass Betroffene sexualisierter Gewalt durch Ordensbrüder ein Recht auf die Wahrheit haben. Diese Studie ist ein Schritt in einem längeren Prozess der Aufarbeitung. Wir haben gemerkt, dass das Aufstellen von Verhaltensregeln und Präventionsordnungen allein nicht ausreicht. Wir müssen die Vergangenheit anschauen, um für die Zukunft zu lernen. Jetzt haben wir es Schwarz auf Weiß, was in unserer Gemeinschaft geschehen ist.

Frage: Welcher der in der Missbrauchsstudie angeführten Fälle hat Sie am meisten betroffen gemacht?

Bruder Andreas: Jeder einzelne Fall – viele werden in der Untersuchung zum Teil sehr ausführlich geschildert – macht mich wütend und betroffen zugleich. Das ist gegen all das, woran ich glaube, wofür ich in den Orden eingetreten bin.

Frage: Von den beschuldigten Mitbrüdern Ihrer Gemeinschaft hat mich der Fall Pater DM am meisten erschüttert. Dieser Ordensmann, der heute noch lebt, rechtfertigte und verharmloste seine Gewalt an Kindern und Jugendlichen als therapeutische Maßnahme, indem er zum Beispiel mit ihnen Ringkämpfe in Unterhosen veranstaltete oder sich von ihnen mit Gürteln und Kabeln schlagen ließ - noch dazu in dem von ihm gegründeten Internat in Bonn …

Bruder Andreas: Sein Verhalten war absurd und ekelhaft. Ich finde dafür keine anderen Worte.

Frage: Die erste Beschwerde einer Mutter gegen diesen Pater DM gab es schon 1971 in Bonn. Erst 2010 wurde er verurteilt und war danach noch lange innerhalb des Ordens in der Jugendarbeit tätig, unter anderem als Sportkaplan in Würzburg. Wie war das möglich?

Bruder Andreas: Man hat die Vorwürfe nicht ernst genug genommen und manipulative Strategien von beschuldigten Missbrauchstätern zu spät erkannt. Seit dem Jahr 2010 herrscht ein Klima, in dem Missbrauchsvorwürfe ernster genommen werden. Menschen haben den Mut bekommen, sich nach solchen Verbrechen zu melden. Leider hat man ihnen erst spät geglaubt, als nach und nach die ganze Dimension dieses Verbrechens sichtbar wurde.

Eine Nahaufnahme der gefalteten Hände eines Franziskaners.
Bild: ©KNA

"In den vergangenen Jahrzehnten sagte man dann schnell mal: Das warten wir erst mal ab und reden nicht darüber", erklärt der Provinzialminister der Franziskaner-Minoriten. "Wir müssen schneller und klarer über schwierige Dinge sprechen. Diese Untersuchung hat auch dabei geholfen, dieses lange Schweigen zu durchbrechen", so Bruder Andreas Murk.

Frage: Seit 2008 ist Pater DM Träger des Bundesverdienstkreuzes. Die Studienleiterinnen empfehlen, ihm dieses aufgrund seiner Straftaten abzuerkennen. Sind Sie auch dafür?

Bruder Andreas:
Darüber bin ich noch in einem rechtlichen Abklärungsprozess. Es ist rein formal nicht ganz einfach, das zu veranlassen, denn es liegt keine Verurteilung durch ein staatliches Gericht vor. In solchen Fällen liegt eine Aberkennung dann im Ermessen des Verleihungsberechtigten. Sicherlich wäre es ein wichtiges Zeichen!

Frage: Wurde Pater DM für seine Taten bisher überhaupt bestraft oder vom Orden ausgeschlossen?

Bruder Andreas: Pater DM wurde vom Kirchengericht bis in die letzte Instanz verurteilt. Die öffentliche Feier der Eucharistie ist ihm untersagt, außerdem die Spendung der Sakramente und jeglicher Kontakt mit Minderjährigen. Er gehört aber weiterhin zu unserer Gemeinschaft, wurde also nicht ausgeschlossen. Mit der Annahme seiner Profess hat der Orden die Fürsorgepflicht übernommen – und die gilt gerade im Alter und beim Pflegebedarf. Sonst müsste die Allgemeinheit einspringen. Er lebt also, mittlerweile 90-jährig, seit mehreren Jahren in einem Pflegeheim für Ordensleute.

Frage: Bereut Pater DM seine Gewalttaten heute?

Bruder Andreas: Es ist leider ein typisches Muster bei Missbrauchstätern, dass sie ihre Vergehen häufig nicht einsehen. Die Untersuchung stellte fest, dass er sich leider auch nicht an der Missbrauchsstudie beteiligt hat und keine Auskunft über die Geschehnisse geben wollte. Er wünscht sich sogar, dass er von seiner Ordensgemeinschaft rehabilitiert wird. Er fühlt sich von der Kirche ungerecht bestraft. Ich denke, umso mehr sind wir als Gemeinschaft gefragt, da deutlich zu sagen, dass Unrecht geschehen ist.

Frage: Sie hatten erst vor kurzem ein Treffen mit Betroffenen. Was erwarten Sie sich von solchen Begegnungen?

Bruder Andreas: Ohne das Mitwirken von Betroffenen hätten wir die Untersuchung nicht auf eine solch umfassende Weise und wie es die "Gemeinsame Erklärung der Deutschen Ordensoberenkonferenz (DOK)" vorsieht, durchführen können. Ich bin den Betroffenen dankbar, dass sie uns über ihre Erlebnisse, Erfahrungen und deren Folgen berichten, denn ohne sie käme das alles nicht ans Licht. Daher rufen wir weiterhin Betroffene und Zeugen dazu auf, sich bei den zuständigen Stellen zu melden. Aus dem Kreis der Betroffenen, die an der Untersuchung mitgewirkt haben, kam der Wunsch zu einem Treffen nach der Veröffentlichung. Dazu wurde auch ich eingeladen. Es ist hilfreich von ihnen zu hören, wie die Untersuchung angenommen wird, welche offenen Fragen es möglicherweise noch gibt und welche Impulse ich für die Zukunft mitnehmen kann. Denn der Auftrag, Menschen zu schützen und Missbrauch zu verhindern, der bleibt.

Frage: Sie haben in Ihrer Gemeinschaft auch Mitbrüder, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Wie viele sind das und wie wird das erlittene Leid innerhalb der Gemeinschaft aufgearbeitet?

Bruder Andreas: Es gibt einige betroffene Mitbrüder, das ist richtig. Ihr Leid war lange nicht im Blick, weil über solche "Fälle" nicht wirklich gesprochen wurde. Jeder geht anders mit den traumatischen Erfahrungen um. Es ist mittlerweile aber für alle klar, dass Therapiemöglichkeiten offen stehen und dass niemand sich mit dieser Not schämen oder gar verstecken muss. Die Ordensprovinz macht klar, dass sie nicht auf Seiten der Täter steht.

Missbrauchs-Untersuchung zu deutschen Franziskaner-Minoriten vorgelegt

Ein Mann Gottes vergreift sich an jüngeren Mitbrüdern, Vorgesetzte bleiben untätig, Beschuldigte zeigen keine Reue: Zwei Anwältinnen haben ermittelt, wie ein franziskanischer Orden mit sexualisierter Gewalt umging.

Frage: Wie sieht die Situation der Franziskaner-Minoriten weltweit gesehen aus – in Hinblick auf Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch?

Bruder Andreas: Weltweit gibt es knapp 4.000 Brüder in unserer Gemeinschaft. Die einzelnen Länder sind in der Regel als selbstständige Provinzen organisiert. Im nächsten Jahr haben wir turnusgemäß unser Generalkapitel mit Vertretern aller Präsenzen. Dort wird auch das Thema "Missbrauch und Prävention" seinen Platz finden. International merke ich, dass wir da sehr unterschiedlich unterwegs sind. Es gibt immer noch Länder und Kulturen, in denen man überzeugt ist: "Bei uns gibt es so etwas nicht!" In anderen Ländern, z. B. den USA oder in Australien, befasst man sich sehr intensiv mit dem Missbrauch und den Folgen. Ich sehe es dabei auch als unsere Pflicht, die bei uns gemachten Erfahrungen im Orden zur Sprache bringen

Frage: Wie war das früher in Ihrer eigenen Gemeinschaft, wie wurde über das Thema Sexualität, Homosexualität oder das Gelübde der Keuschheit gesprochen?

Bruder Andreas: Es war oft ein großes Schweigen darüber im Orden. Es gab auch so eine Tendenz, das Gelübde der Keuschheit zu spiritualisieren. Aber man kann menschliche und körperliche Bedürfnisse nicht durch Gebete oder irgendwelche Psychotricks auflösen. Früher munkelte man dann schon mal im Kreis der Brüder, dass bei dem einen oder anderen was komisch ist, jemand gegen seine Gelübde verstößt oder es gab Gerüchte. In den vergangenen Jahrzehnten sagte man dann schnell mal: "Das warten wir erst mal ab und reden nicht darüber." Oft sind es nur Ahnungen oder Vermutungen. Das muss sich ändern: Wir müssen schneller und klarer über schwierige Dinge sprechen. Diese Untersuchung hat auch dabei geholfen, dieses lange Schweigen zu durchbrechen. Es wird jedoch eine bleibende Herausforderung sein, Strukturen zu schaffen und jeweils neu anzupassen, damit potenzielle Täter keine Chance mehr haben.

Frage: Wie finden Sie heraus, ob Bewerber, die in Ihr Kloster eintreten möchten, geeignet sind und einen gesunden Umgang mit ihrer eigenen Sexualität haben?

Bruder Andreas: Wir prüfen sehr genau, welche Motivation jemand hat, um in unserer Gemeinschaft zu leben. Wenn jemand zum Beispiel schon von einer anderen Ordensgemeinschaft abgewiesen wurde oder vorher in einem Priesterseminar war, fragen wir dort nach, was los war. Wir haben strenge Präventionsauflagen und jetzt diese Missbrauchsstudie. Damit wollen wir einem potentiellen Täter signalisieren: "Du kommst bei uns mit deinen Neigungen nicht durch." Es gilt, Täterstrategien von vornherein zu unterbinden und eine Atmosphäre zu schaffen, in der von Anfang an klar ist, dass hier nichts mehr versteckt, verharmlost oder verschwiegen wird. Wir benennen das Unrecht. Solche Verbrechen sexualisierter Gewalt darf es in Zukunft nicht mehr geben. Wir hoffen vor allem, dass diese Untersuchung auch denjenigen hilft, die aufgrund der Taten einiger und des zu langen Wegschauens anderer in ihrem Leben geschädigt wurden. Mein Vorgänger als Provinzialminister hatte einmal bei einer Sitzung laut gerufen: "Reinigung, Reinigung, Reinigung!" Das hat sich tief in mir eingebrannt. Die Wahrheit ist mühsam, aber notwendig. Die Untersuchung der Missbrauchsfälle hat meiner Provinz dabei geholfen. Es ist zu hoffen, dass weitere Gemeinschaften ähnliche Projekte in Angriff nehmen.

Von Madeleine Spendier