Wallfahrt auf vier Hufen – 200 Pferde nehmen jährlich teil

Einzigartiger Brauch: Der Willibaldsritt führt durch die Kirche

Veröffentlicht am 07.07.2024 um 00:01 Uhr – Von Jutta Simone Thiel (KNA) – Lesedauer: 

Jesenwang ‐ Wallfahrten hoch zu Ross mag es viele geben. Aber der alljährliche Willibaldsritt im oberbayerischen Jesenwang ist in seiner Art einmalig. Denn nach der Segnung von Pferd und Reiter führt der Weg mitten durch die Kirche.

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Sternenglück ist nervös. Die schwarze Stute bläht die Nüstern und schüttelt schnaubend den Kopf mit der kunstvoll geflochtenen Mähne. Gleich wird sie mit rund 200 anderen Pferden am Willibaldsritt im oberbayerischen Jesenwang teilnehmen. "Das ist etwas ganz Besonderes – egal, ob für Zwei- oder Vierbeiner", sagt Anita Schwarz. Sie ist die Besitzerin des Gestüts im Nachbarort Egg, aus dem auch Sternenglück stammt.

Bereits 37-mal ist Schwarz bei der jährlichen Prozession mitgeritten. Seither gelang es ihr auch, ihre vier Kinder und viele ihrer Reitschülerinnen und Reitschüler für diesen Brauch im Landkreis Fürstenfeldbruck westlich von München zu begeistern. Denn wer mitmacht, ist Teil von etwas Einzigartigem: Der Ritt geht mitten durch die Wallfahrtskirche Sankt Willibald hindurch – europaweit einmalig. Schwarz beschreibt es denn auch als ein "erhabenes Gefühl", wenn sie mit ihrem Pferd sachte durch das barocke Gotteshaus reitet.

Angeführt wird der Zug von einem Reiter mit Wallfahrerkreuz

Bis es jedoch soweit ist, nehmen alle Teilnehmer erst einmal vor dem Jesenwanger Gemeinschaftshaus in der Mitte des Ortes Aufstellung. Von dort aus setzt sich gegen 13.30 Uhr der Zug in Bewegung. Angeführt wird er von einem Reiter mit Wallfahrerkreuz. Der Mann in Tracht hält die Zügel nur mit der linken Hand, denn mit der rechten muss er das Kruzifix stemmen. Es ist kunstvoll mit einer Girlande aus grünen Blättern und einzelnen Blüten geschmückt.

Bild: ©KNA/Dieter Mayr

Reiter mit Wallfahrerkreuz beim Willibaldsritt in Jesenwang.

Dann folgen die Mitglieder des ländlichen Reit- und Fahrvereins Moorenweis, zu dem auch der Reitstall von Anita Schwarz gehört. Sie haben sich einheitlich in hellgrüne Shirts und schwarze Reithose gekleidet und ihre Tiere mit grünen Ohrenmützen gegen die Fliegen geschützt. Ein Blickfang ist der Zweispänner mit den acht riesigen, goldbestickten Fahnen der Ortsvereine. Auch zwei Votivwägen rollen heran: einer mit dem mannshohen Modell der Türkenfelder Kirche, einer mit der aus roten und weißen Blumen gesteckten Nachbildung der Willibaldskirche. Mit Blüten geschmückt sind auch die vielen Kutschen und Gespanne im Zug. So etwa der Truhenwagen mit den winkenden Lokalpolitikern.

Der Willibaldsritt ist ein lebendiger, religiöser Brauch. Immer an einem Sonntag rund um den 7. Juli, an dem den Annalen zufolge der heilige Willibald und einstige Bischof von Eichstätt 787 oder 788 starb, findet er statt. Der Zug von Ross und Reiter ist längst auch eine Attraktion. Viele Leute stehen am Straßenrand und schauen zu, wenn die Prozession an ihnen vorbeizieht. Während die Hufe der Reit- und Zugtiere – vom Haflinger übers Kaltblut bis zum Pony – übers Straßenpflaster klappern, spielen die Blaskapellen der angrenzenden Gemeinden bayerische Marschmusik. Vereinzelt mischen sich unter die festlich geschmückten Pferde auch "artfremde Überraschungsgäste" wie die aus Pferd und Esel gekreuzten Mulis, junge Ziegen oder gar ein als Reittier genutzter, friedlicher Ochse.

Farbenfrohes Schauspiel sorgt für Begeisterung

Bei den Zuschauern sorgt das farbenfrohe Schauspiel für Begeisterung. Bei den Pferden kann es schnell in Stress ausarten. Deshalb platziert Martin Schmid, Vorsitzender des Freundeskreises Sankt Willibald und Hauptverantwortlicher für die Planungen, "blasmusikfeste" Tiere wie Sternenglück gezielt in den vorderen Reihen. Weniger nervenstarke Artgenossen "marschieren" sicherheitshalber lieber hinter einem erfahrenen Leittier her. Hier hat es sich bewährt, dass Schwarz die Reitstunden meist im Freien abhält und ihre Pferde auch mal bei lauter Musik trainiert.

Nach etwa eineinhalb Kilometern erreicht der feierliche Zug die spätmittelalterliche Wallfahrtskirche. Sie liegt rund 500 Meter außerhalb des Dorfes und geht auf einen Bau der Fürstenfelder Zisterzienser zurück. Dem Orden wird eigentlich eine Vorliebe für den ebenfalls als Schutzpatron von Pferden geltenden heiligen Leonhard nachgesagt. Warum das Kirchlein im 15. Jahrhundert dem heiligen Willibald geweiht wurde? Darauf gibt bis heute keine Antwort.

Bild: ©KNA/Dieter Mayr

Teilnehmer der Prozession reiten auf Pferden zum Willibaldsritt in Jesenwang.

Endlich am Zielort angekommen, umrunden Reiter, Kutschen, Gespanne und Wägen erst einmal das Gotteshaus und sammeln sich dann auf der Wiese südlich der Kirche. Nach den Grußworten des Bürgermeisters und des Vorsitzenden des Willibaldvereins begeben sich alle zum Nordportal des Kirchleins. Es ist in der Zwischenzeit geöffnet worden, und vor ihm wartet schon der Pfarrer. Er steht auf einem hölzernen Podest mit Geländer. Von oben herab spritzt er Weihwasser auf Rösser, Reiter und Gespanne und spricht dazu einen Segensspruch von 1780.

Jetzt heißt es, sachte hineinreiten ins Gotteshaus. "Für uns Reiter stellt das alles kein Problem dar", erläutert Schwarz. Die Torbögen seien so groß, dass man selbst hoch zu Ross nicht den Kopf einziehen müsse. Der Weg zum südlichen Ausgang ist indes nur wenige Meter lang. Am Boden liegt ein schall- und trittgedämpftes Holzpflaster, so dass fast kein Klacken der Hufeisen zu hören ist. In der Mitte werden aber dann die Zügel angezogen. Ross und Reiter halten kurz inne und wenden den Kopf zum Hochaltar. Dort sitzt im Zentrum eine Figur des lesenden Bischofs Willibald, die von zwei Engeln flankiert wird.

Tradition seit 1712

Entstanden ist die Tradition des Willibaldsritts 1712. Damals grassierte in Jesenwang eine schwere Vieh- und Pferdeseuche. Die Bauern, für die die kräftigen Tiere unentbehrliche Arbeitshilfen in der Landwirtschaft waren, riefen den heiligen Willibald um Hilfe an: Sie gelobten feierlich, jährlich eine Pferde-Wallfahrt zu seinen Ehren zu veranstalten, wenn er ihre Tiere rette. Eine eiserne Votivtafel an der Nordwand der Kirche belegt, dass der Heilige Erbarmen hatte, und kein Pferd mehr einer Seuche zum Opfer fiel. Wie es dazu kam, dass die Jesenwanger nicht nur durch den Ort, sondern auch noch mitten durchs Gotteshaus reiten, ist nicht dokumentiert. Das bleibt ein weiteres Rätsel.

Möglicherweise könnte es aber mit der in der Kirche aufbewahrten Willibalds-Reliquie zusammenhängen. Dabei handelt es sich um eine weiße Albe, die er als Bischof getragen haben soll. Wie Schmid erzählt, wird gemutmaßt, dass der Segen umso besser wirken könne, je näher Ross und Reiter diesem besonderen Stück kämen.

Bild: ©KNA/Dieter Mayr

Reitstall-Besitzerin Anita Schwarz (r.) auf ihrer Stute Sternenglück mit Tochter und deren Pferd auf ihrem Gestüt in Mammendorf.

Über 300 Jahre gibt es den Jesenwanger Willibaldsritt inzwischen. Es waren nicht immer leichte Zeiten. In den 1960er Jahren etwa war das Kirchlein so baufällig geworden, dass das Durchreiten zu gefährlich wurde. Zudem hatten die vielen Maschinen die Pferde in der Landwirtschaft immer mehr verdrängt, dass der Ritt eingestellt zu werden drohte. Die Rettung kam 1979 mit der Gründung des Fördervereins Sankt Willibald. Dieser setzte sich dafür ein, dass die Kirche renoviert wurde und so die Tradition weiter aufrecht erhalten werden konnte.

Seit 2022 immaterielles Kulturerbe

Ungefähr 400 Jesenwanger tragen seither jährlich zum Gelingen der Pferdeprozession bei. Ansporn und Bestätigung ist für sie, dass die Unesco den Willibaldsritt 2022 in die bundesweite Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen hat. Bereits seit 2020 ist er im Bayerischen Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes zu finden.

Sternenglück hat ihren Auftritt trotz Hitze gut überstanden. Nach der großen Anstrengung reitet Anita Schwarz mit ihr zum Gestüt zurück und spritzt sie gründlich mit Wasser ab. Danach geht's für die Stute wieder in den schattigen Stall.

Von Jutta Simone Thiel (KNA)