Schwere Vorwürfe gegen Vorzeigekatholiken in Frankreich
"Il a essaye d'Aimer" hält die Gedenktafel für Henri Groues auf dem Friedhof von Esteville in Frankreich fest. "Er hat versucht, zu lieben." Seit einigen Tagen steht der Verdacht im Raum, dass Henri Groues alias Abbe Pierre es nicht nur bei Versuchen der Nächstenliebe hat bewenden lassen: Der katholische Ordensmann und Gründer der Emmaus-Bewegung soll sich möglicherweise sexuell übergriffig gegenüber mehreren Frauen verhalten haben.
Darauf jedenfalls deuten die Aussagen hin, die im Auftrag der internationalen und der französischen Emmaus-Gemeinschaft sowie der in Frankreich ansässigen Abbe-Pierre-Stiftung gesammelt und ausgewertet wurden. Auslöser der Untersuchung war demnach eine vor einem Jahr eingegangene Zeugenaussage über einen sexuellen Übergriff des 2007 verstorbenen Geistlichen auf eine Frau. Nach einem Treffen mit der Frau habe man ein Expertenbüro mit der Untersuchung beauftragt, um mögliche weitere Fälle festzustellen. Die Experten trugen den Angaben zufolge die Aussagen von sieben Frauen zusammen, von denen eine zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig gewesen sei.
Zahlreiche Skandale der "ältesten Tochter der katholischen Kirche"
In Frankreich war der Mann mit der Baskenmütze,dem stoppligen Bart und der markanten Brille bis dahin so etwas wie eine nationale Ikone. Als "Vater der Obdachlosen" wurde er verehrt. Der Name, unter dem er bekannt wurde, Abbe Pierre, stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als er in der Resistance Widerstand leistete gegen die deutschen Besatzer. Jahrelang stand der Sozialaktivist auf Platz eins der beliebtesten Franzosen. Speziell für den linken Flügel des französischen Katholizismus war Abbe Pierre "die" Identifikationsfigur.
Doch auch auf der anderen Seite des Spektrums bröckelt das, was nach Skandalen um Kindesmissbrauch und sexuelle Übergriffe von Frankreich als der "ältesten Tochter der katholischen Kirche" übrig geblieben ist. Im vergangenen Monat noch wurde die im konservativen Spektrum beheimatete Gemeinschaft Saint-Martin für den ersten Platz gefeiert, den sie in der Statistik der Priesterweihen einnahm. Nun steht auch hier der Gründer, der 2005 verstorbene Jean-Francois Guerin, im Zwielicht. Am Donnerstag teilte die Französische Bischofskonferenz mit, dass zwei vom Vatikan eingesetzte "Apostolische Assistenten" Vorwürfe von geistlichem Missbrauch untersuchen sollen, die gegen Guerin erhoben werden. Überdies hätten einige erwachsene Personen von Delikten mit sexuellem Charakter berichtet, etwa von erzwungenen Küssen.
Es gehe darum, das erlittene Leid anzuerkennen und der Gemeinschaft Saint-Martin zu ermöglichen, ihre Gründung und ihre Geschichte in einem neuen Licht zu sehen, teilten die beiden Assistenten mit – der Bischof von Laval, Matthieu Dupont, und der Abt des Prämonstratenserklosters Mondaye, Francois-Marie Humann. Zugleich sollen Dupont und Humann die Gemeinschaft bei Reformen begleiten, die die vatikanische Glaubensbehörde im Anschluss an eine zwischen Juli 2022 und Januar 2023 durchgeführte Visitation für notwendig hält.
Ein Standort der Gemeinschaft ist der Mont Saint-Michel, die weltberühmte Klosterinsel an der Grenze zwischen Normandie und Bretagne. Die seelsorgliche Betreuung von Pilgern und Touristen teilen sich die in schwarzer Soutane gekleideten Geistlichen von Saint Martin mit den in heller Ordenskleidung auftretenden Mitgliedern der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem.
Erschütterung unter Anhängern von Abbe Pierre groß
Die von dem 2013 verstorbenen Pierre-Marie Delfieux 1975 gegründete Gemeinschaft habe viel zu einer in den 1980er-Jahren einsetzenden Erneuerung der Kirche beigetragen, schreibt die Zeitung "La Croix". Doch spätestens seit 2019 erstmals spiritueller Missbrauch sowie sexuelle Übergriffe durch Delfieux publik wurden, steckt die aus Priestern, Ordensbrüdern und -schwestern sowie Laien bestehende Gemeinschaft in einer Krise. Wie "La Croix" am Mittwoch berichtete, räumte die Gruppierung jetzt ein, dass die Vorwürfe der Wahrheit entsprächen. Man erkenne offiziell die Verantwortung und den Schaden an und spreche der Betroffenen, einer heute 68-jährigen Französin, "tiefes Bedauern über das entstandene Leid" aus.
Bei den Anhängern von Abbe Pierre ist die Erschütterung groß. Es gebe Grund zu der Annahme, dass es weitere Betroffene gebe, deren Zahl sich schwer schätzen lasse, so die Emmaus-Bewegung. Die Präsidentin der Abbe-Pierre-Stiftung, Marie-Helene Le Nedic, sprach von einem "immensen Schock". An der Tür zum "Centre Abbe Pierre-Emmaus" in Esteville hing am Donnerstag ein weißer Zettel mit der Aufschrift: "In Solidarität mit den Opfern sexistischer und sexueller Gewalt und nach den jüngsten Medienberichten hat das Team des Zentrums Abbe Pierre-Emmaus beschlossen, die Gedenkstätte symbolisch bis auf weiteres zu schließen."