Schweizer Experte: Defizite bei Missbrauchsaufarbeitung in Deutschland
Der Schweizer Theologe und Präventionsexperte Stefan Loppacher sieht bei der Missbrauchsaufarbeitung in Deutschland im Vergleich zur Schweiz Defizite in Sachen Unabhängigkeit und Fokus. Beim Projektdesign von Studien und Untersuchungen habe die Kirche über Fragestellungen und über die Voraussetzungen, unter denen Forschung ermöglicht wird, von Anfang an einen enormen Einfluss auf die Ergebnisse, schreibt Loppacher in einem Beitrag für das Theologische Feuilleton "feinschwarz.net" (Mittwoch). Zudem sei nicht nur in der MHG-Studie, sondern auch in verschiedenen Folgeprojekten in den Bistümern das Aktenmaterial durch kirchliche Mitarbeiter ausgewählt und bearbeitet, im Falle der MHG-Studie sogar durch ein mehrstufiges Verfahren komplett anonymisiert worden. "Direkter, ungefilterter und uneingeschränkter Zugang zu kirchlichen Akten und Daten ist eine grundlegende Voraussetzung für Aufarbeitungsprojekte, damit diese das Prädikat 'unabhängig' auch verdienen", betont Loppacher, der seit 1. Juli 2024 die neue nationale Dienstelle "Missbrauch im kirchlichen Kontext" bei der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) leitet.
Zudem falle auf, dass sowohl in Forschung und Aufarbeitung als auch bei der Prävention der Fokus weiterhin praktisch ausschließlich auf minderjährige Betroffene liege, so der Experte weiter. "Erwachsene Betroffene und die sexuellen Übergriffe gegen sie im Kontext von Pfarrei, Verbandsarbeit, Ordensleben, neuen geistlichen Gemeinschaften und Gebetsgruppen müssen auch in den Blick genommen werden, sowohl in den Aufarbeitungsprojekten als auch in der Präventionsarbeit."
Im Vergleich dazu gebe es bei den Verträgen zur Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch in der Kirche in der Schweiz, deren erste Ergebnisse vergangenes Jahr veröffentlicht worden sind, ein Regelwerk, das jegliche Einflussnahme ausschließe sowie die Forschungsfreiheit und die Unabhängigkeit des Projekts garantiere. "Ein zentrales Anliegen im Forschungsdesign bestand von Anfang an darin, Minderjährige und Erwachsene als Opfer von sexuellen Übergriffen durch Kleriker, Ordensangehörige und weitere kirchliche Angestellte und Freiwillige in den Blick zu nehmen."
Bei Prävention weit voraus
Dagegen lobt Loppacher, dass die Kirche in Deutschland auf ihrem Synodalen Weg die systemischen Ursachen sexualisierter Gewalt bearbeite. Der Fokus liege dabei auf dem Umgang mit Macht, dem Priesterbild, der Sexualethik und der Rolle der Frau. "Der Synodale Weg setzte sich dafür ein, dass diese Themen, trotz vielseitigem Widerstand, auf der Agenda bleiben und angegangen werden. (…) Von einem sorgfältigeren Umgang mit Macht, von mehr Beteiligung, von einer Kultur der Besprechbarkeit und von mehr Qualität und Professionalität in der Seelsorge können alle nur profitieren, Gläubige, genauso wie Mitarbeitende und Führungspersonen."
Positiv würdigt der Schweizer Experte zudem die Anstrengungen der Kirche in Deutschland im Bereich der Prävention. "In Sachen Präventionsarbeit ist man hier anderen Ländern, auch der Schweiz, viele Jahre voraus." Es seien in allen Diözesen Fachleute angestellt und vielerorts umfangreiche Verhaltenskodizes implementiert worden. "Unter diesen Aspekten ist die Kirche heute tatsächlich eine komplett andere als noch vor 20 Jahren."
Grundsätzlich stellt Loppacher fest, dass sich trotz sehr unterschiedlicher Herangehensweisen die Befunde über Ausmaß, Ermöglichungsbedingungen und Ursachen für sexualisierte Gewalt und dessen Vertuschung in der Kirche in beiden Ländern stark ähnelten. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Forschungs-Ergebnissen samt Konsequenzen sei vielerorts immer noch ausstehend. Stattdessen bleibe es oft bei kosmetischen Korrekturen. "Die Kirche braucht Hilfe, um aus der mentalitätsgeschichtlichen und strukturellen Sackgasse herauszufinden", fordert Loppacher. (mal)