Woelki: Ukraine steht zwischen Durchhaltewillen und Hilflosigkeit
Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki hat auf seiner Reise in die Ukraine viele Eindrücke gesammelt. Den Kardinal erstaunten die unterschiedlichen Gefühlswelten: Auf der einen Seite die Angst und Trauer, auf der andere Seite gab es auch ungetrübte sommerliche Momente, sagte Woelki im Interview.
Frage: Herr Kardinal, seit Mittwoch haben Sie die Ukraine bereist und wollen am Montag zurückkehren. Haben Sie bei Ihrem Aufenthalt in dem kriegsgeschüttelten Land irgendeine kritische Situation erleben müssen?
Woelki: Vor allem in Kiew haben wir täglich mehrere Raketenwarnungen erlebt. Einerseits wirkt es erschreckend und geradezu leichtsinnig, dass die Menschen sich davon gar nicht mehr beeindrucken lassen, ihren Alltagsgeschäften weiter nachgehen und keine Schutzräume aufsuchen. Auf der anderen Seite zeigt sich in dem Verhalten, dass es ein großes Vertrauen in die Flugabwehrsysteme gibt. Ich selbst habe mich nicht bedroht gefühlt, auch als wir am Freitagabend wieder von Kiew mit dem Nachtzug nach Lemberg (Lwiw – Anm. d. Redaktion) aufgebrochen sind und es einen Alarm beim Herausrollen aus dem Bahnhof gab.
Frage: Sie haben belastende Situationen erlebt: zum Beispiel bei einer Trauerfeier für drei getötete Soldaten gepredigt oder mit Menschen in Irpin, Butscha und Hostomel gesprochen, wo nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte Leichen gefunden worden waren. Was sind Ihre nachhaltigsten Eindrücke bei der Reise?
Woelki: Die Trauerfeier der drei gefallenen Soldaten werde ich nicht mehr vergessen. Die Bilder haben sich tief in meine Seele eingeprägt. Die Menschen haben sich festgehalten und versucht, sich gegenseitig Halt zu geben. Eine Ehefrau war schwanger und brachte ihr einjähriges Kind mit ans Grab. Dieses unvorstellbare Leid macht existenziell betroffen. Auf einem neu entstandenen Militärfriedhof wurden innerhalb kürzester Zeit 1.000 Soldaten bestattet. Die Tränen der Mütter und Witwen – das bewegt mich zutiefst.
Frage: Wie haben Sie die Menschen in der Ukraine erlebt nach zweieinhalb Jahren Krieg? Gibt es noch den Willen, sich zu verteidigen, oder macht sich Resignation breit?
Woelki: Sie finden beides. In Kiew können sie Orte erleben, wo der Krieg gar nicht zu spüren ist. Sie meinen, sie seien in Berlin am Prenzlauer Berg mit Geschäften und Biergärten in sommerlicher Atmosphäre. Junge Menschen singen und lachen auf der Straße. Und dann ist auf der anderen Seite eine große Müdigkeit festzustellen – und der tiefe Wunsch, endlich in Frieden und Freiheit leben zu wollen.
Frage: An Aufgeben denken die Menschen nicht?
Woelki: Die Menschen setzen alles daran, in einem souveränen Land zu leben. Sie wollen sich nicht mehr von Russland sagen lassen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Folgenden Gedanken habe ich immer wieder gehört: Die gefallenen Männer haben ihr Leben für unsere Freiheit gegeben und sie wollen nicht, dass wir in Unfreiheit zurückbleiben. Am Grab ihres Mannes stand die Ehefrau mit ihrem Sohn, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Er sagte uns, er wolle Feuerwehrmann werden. Und wenn das nicht klappe, dann würde er die Uniform seines Vaters anziehen und für ihn kämpfen. Das war zutiefst erschreckend. Die Kinder können nicht mehr Kinder sein, wie mir Priester sagten. Aber es zeigt, wie sehr es um ihre Freiheit geht.
Frage: Die Ukraine setzt nach wie vor alles daran, sich mit Waffen gegen den Aggressor Russland zu verteidigen. Ist bei Ihnen während der Reise das Verständnis dafür gewachsen – oder eher geschwunden, weil die Opfer zu groß sind?
Woelki: Ich bin weder Politiker noch Militär. Deshalb kann ich mich im Letzten nicht wirklich qualifiziert dazu äußern. Eins ist jedenfalls klar: Man möchte nicht von Russland in irgendeiner Weise beherrscht werden. Die ukrainischen Gesprächspartner haben sehr deutlich gemacht, dass sie nicht mehr das Leid erleben wollen, das es unter sowjetischer Besatzung gab. Die griechisch-katholischen Bischöfe befürchten, dass ihre Priester und deren Familien erneut in Gulags müssen und ihre Kirche ausradiert wird. Die einzige Sicherheit für ein Leben in Freiheit sehen sie darin, dass die Ukraine Mitglied der Europäischen Union und der Nato wird.
Frage: Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sind nicht in Sicht. Welche Chancen sehen Sie für einen Frieden?
Woelki: Die Frage haben wir hier jedem gestellt und ganz unterschiedliche Auffassungen gehört. Die einen wollen mit allen Mitteln weiterkämpfen. Manch einer sagte, man solle die von Russland bereits eroberten Gebiete der Ostukraine abgeben, um Frieden zu haben. Dann wird aber gleich die Sorge formuliert, dass man in drei bis fünf Jahren wieder von Russland angegriffen wird. Andere sagen, dass das Schicksal der Ukraine nur zwischen Putin und dem amerikanischen Präsidenten – wer immer das auch künftig sein wird – ausgehandelt wird. Immer wieder habe die Forderung gehört, dass der Heilige Stuhl, das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen eine Plattform schaffen, wo zunächst einmal humanitäre Hilfe organisiert wird. Und die Hoffnung ist, dass in nicht allzu langer Zeit Diplomaten und Politiker auf diese Plattform aufspringen können, um dann Friedensgespräche zu beginnen. Letztlich ist eine große Hilflosigkeit feststellbar, wie dieser Krieg gestoppt werden kann, der jeden Tag 300 bis 400 Ukrainern das Leben kostet.
„Ich habe Mütter und Ehefrauen getroffen, die seit zwei Jahren keinen Kontakt zu ihren internierten Söhnen und Männern gehabt haben. Dieser Schmerz zerreißt sie.“
Frage: Muss die katholische Kirche nicht deutlicher gegenüber Aggressor Putin und seine ideologische Stütze, den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, auftreten und ein Ende der Kriegshandlungen einfordern?
Woelki: Das vermag ich nicht zu sagen. Aber ich habe davon gehört, dass der Vatikan im Hintergrund in aller Stille Gespräche führt.
Frage: Welche Erwartungen wurden an Sie als Vertreter der deutschen Kirche angetragen?
Woelki: Vor allen Dingen, dass wir diesen Krieg nicht vergessen. Und dass wir uns dafür einsetzen, dass die Genfer Konvention eingehalten wird und uns für die Freilassung von Kriegsgefangenen einsetzen. Ich habe Mütter und Ehefrauen getroffen, die seit zwei Jahren keinen Kontakt zu ihren internierten Söhnen und Männern gehabt haben. Dieser Schmerz zerreißt sie.
Frage: Wie kann die Kirche in Deutschland helfen?
Woelki: Sie kann die griechisch-katholische und die lateinische Kirche dabei unterstützen, den vielen ukrainischen Binnenflüchtlingen zu helfen. Etwa 40 Prozent der Einwohner sind aus den ostukrainischen Gebieten geflohen. Und wenn Russland die Ukraine unterwirft, dann ist damit zu rechnen, dass diese Menschen nach Polen und Deutschland weiter fliehen. Wir sprechen hier von 10 bis 14 Millionen Ukrainern.