Der alte Mann und der liebe Gott
Zweiundvierzig Jahre später können diese Männer nun ein weiteres Mal große Veränderungen in ihrem Leben planen, denn der Augenblick, an dem selbst rüstige Rentner irgendwann einmal doch an die Himmelspforte klopfen müssen, dürfte gemäß den Wahrscheinlichkeiten der Statistik noch geraume Zeit auf sich warten lassen.
Nach wissenschaftlichen Berechnungen haben Männer, die heute in Rente gehen, durchschnittlich weitere rund achtzehn Lebensjahre vor sich: das ist so viel wie von der Geburt bis zur Volljährigkeit. Galt das Leben von Senioren bis vor ein oder zwei Generationen noch als eine Art Existenz auf der Resterampe der Gesellschaft, bei der es vornehmlich mit Märchen und einfältigen Brettspielen eine Schar von Enkeln zu unterhalten galt, so eröffnet sich für viele Menschen nach dem Berufsleben mittlerweile eine neue Perspektive voller körperlicher und geistiger Aktivität sowie voller neuer Herausforderungen.
Religion ist weiblich
An der katholischen Kirche scheint diese Entwicklung überraschenderweise vorübergegangen zu sein. Bei ihrem eigenen Personal setzt sie darauf, dass durchschnittliche Ortsgeistliche bis zum fünfundsiebzigsten Lebensjahr ihre Herden hüten, dass Kardinäle erst mit 80 ihren offiziellen Abschied beantragen und ein Papst sogar bis in höchstes Alter aktiv bleibt, für Laien, die bereits in ihren Sechzigern in den Ruhestand treten, hat sie vielleicht aber gerade deshalb erstaunlich wenig anzubieten.
Männerpastoral
Das Leben von Männern verändert sich und ist vielfältiger geworden. Das Bild des alleine Berufstätigen und Familienernährers ist zwar noch vorhanden, seine frühere Bedeutung als prägendes Leitbild hat es jedoch längst verloren. Für Männer sind heute unterschiedliche Lebenslagen und Lebensformen mit differierenden Leitbildern kennzeichnend - und damit auch unterschiedliche Einstellungen und Bedürfnisse, Konflikte und Sehnsüchte. Diese zeigen sich gerade auch im Lebensverlauf.Oft ist zudem nicht zu übersehen, dass die Religion in vielen Augen nach wie vor weiblich ist. Diese emotionale 'Feminisierung' der Religion, die sich aus einer jahrhundertealten Trennung der Lebensbereiche von Männern und Frauen erklärt, setzt Gefühl und Weiblichkeit ebenso gleich wie Rationalität und Männlichkeit. Und obwohl eine solch grobe Einteilung längst als männliche Meinungsmache entlarvt wurde, hat es doch oft noch den Anschein, als wäre ein Gottesdienstbesuch und ein Engagement in der Kirche zumindest diesseits von kirchlichen Weihen vornehmlich eine weibliche Angelegenheit, als bildeten Glauben und Beten ein frauenaffines Reservat.
Zwar gibt es durchaus eine kirchliche Männerarbeit, die hat jedoch in der Regel eine Ausrichtung, die andere Altersgruppen als die der aktiven Senioren bevorzugt. Da geht es dann eher um "Die neuen Väter – moderner Mythos oder gelebte Realität?" oder um "Berufliche Neuorientierung für Männer", für ältere Männer bleibt in diesem Spektrum manchmal nur die Anregung: "Männer auf neues Terrain holen: Engagement in der Gemeindebücherei".
Übergang zum Ruhestand als Krisensituation
Für Männer auf der Suche nach einem neuen Ich kann das hart sein, denn sie erleben den Übergang in den Ruhestand häufig als eine persönliche Krisensituation. Mit der Berufstätigkeit verlieren sie in der Regel Status und Funktion, der Kontakt mit den Arbeitskollegen rückt aus dem Mittelpunkt ihres Lebens und lässt irgendwann ganz nach.
Der amerikanische Gerontologe Robert C. Atchley macht in diesem Zusammenhang unterschiedliche Phasen aus. Nach seinen Untersuchungen folgt auf eine Phase der Euphorie und Geschäftigkeit unmittelbar nach dem letzten Arbeitstag eine zweite Phase der Ernüchterung und Niedergeschlagenheit, die wiederum Platz macht für eine persönliche Neuorientierung, zu der oft auch eine Neubewertung der Spiritualität gehört. Die Wende im Leben vieler Männer könnte damit gleichzeitig eine Wende in ihrem Verhältnis zur Religion einläuten.
Zum beiderseitigen Nutzen ist die Kirche also aufgerufen, auf diesen Kreis potentieller neuer Gemeindeglieder mit speziell auf sie zugeschnittenen Angeboten stärker als bisher zuzugehen. Ein Bewusstsein dafür ist im Grundsatz vorhanden, denn schon vor vier Jahren stellte die Deutsche Bischofskonferenz bei einem Fachgespräch ihrer Pastoralkommission eine "gewachsene gesellschaftliche Bedeutung der Männerfrage' fest.
Alt und ausgegrenzt?
Wenige Appelle ziehen sich so sehr durch das Pontifikat von Franziskus wie diejenigen, mehr auf die alten Menschen zu achten. Folgerichtig traf er im vergangenen Jahr mit denen zusammen, über die er so viel predigt: Der päpstliche Familienrat hatte zu einer großen Begegnung mit Senioren und Großeltern eingeladen. Rund 40.000 Menschen aus aller Welt waren dabei - auch Benedikt XVI.In Bezug auf die Kirche wird diese Einschätzung von Untersuchungen des Wiener Theologen und Religionssoziologen Paul M. Zulehner gestützt, der gemeinsam mit dem Soziologen Rainer Volz ermittelte, dass sich die Religiosität von Frauen und Männern tendenziell angleicht: bei den einen ist sie im Sinken begriffen, bei den anderen im Steigen.
Bitte kein Betroffenheitsjargon
Männer bei diesem Steigflug zu begleiten, ist eine wichtige seelsorgerische Aufgabe. Sie bedarf nicht nur einer nüchternen Sprache, die die männliche Befindlichkeit aufgreift, ohne in den Betroffenheitsjargon empfindsamer Männergruppen zu verfallen, sie muss ebenso auch Männer zu einem Engagement in den Gemeinden reizen, das ihr in den langen Jahren der Berufstätigkeit entstandenes Potential an Erfahrung und Gestaltungskraft aufgreift. Viele Männer wollen gerade auch im Ruhestand etwas zu tun haben, denn es ist vielfach immer noch vor allem die Arbeit, die ihrem Leben einen Sinn gibt.
Wenn es Gemeinden gelingt, Männern etwa durch die Betreuung von Flüchtlingen oder die Förderung von Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz das Gefühl zu geben, dass sie noch gebraucht werden, könnte es ihnen ebenfalls gelingen, der Tat das Wort folgen zu lassen und selbst kirchenferne Rentner für spirituelle Themen zu öffnen. Vielleicht finden sie dann in ihrer Kirche ja das, was Bob Dylan als Held ihrer Jugend 1974 ebenfalls besang: "Shelter from the storm".