Gericht dürfe sexuelle Gewalt durch Kleriker nicht als Privatsache betrachten

Lüdecke: Missbrauch durch Priester löst Amtshaftung für Bistum aus

Veröffentlicht am 22.08.2024 um 15:38 Uhr – Lesedauer: 

Köln/Bonn ‐ Ein Priester ist immer im Dienst, auch wenn er Verbrechen begeht – und das müssen auch Gerichte berücksichtigen, fordern die Rechtswissenschaftler Rixen und Lüdecke angesichts eines Prozesses um die Haftung des Erzbistum Köln für die Taten eines Serientäters.

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Der Missbrauch eines Pflegekindes durch einen Priester ist laut dem Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen und dem Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke nach kirchlichem Verständis keine Privatsache des Priesters. Das Landgericht Köln muss daher nach Ansicht der beiden Professoren in dem dort seit Monaten verhandelten Fall eine Amtshaftung des Erzbistums Köln zugrunde legen, schreiben die beiden in einem Beitrag für das Verfassungsblog (Mittwoch). Die Entscheidung des Gerichts wird am 17. September erwartet. "Das Kirchenrecht folgt einem kirchenamtlichen Verständnis des Priestertums als totaler Indienstnahme der ganzen Person", betonen die Autoren. Diese für das Priesterverständnis wesentliche "Ganzhingabe" sei ein wesentlicher Grund für die Zölibatspflicht, "in der sich die vollständige Verfügbarkeit für das total beanspruchende Priestertum ausdrückt".

Dieses kirchliche Selbstverständnis müsse auch die staatliche Justiz bei der Bewertung des Falles zugrundelegen. Das folge aus dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht des Grundgesetzes: "Zu diesem grundgesetzlich garantierten Selbstbestimmungsrecht gehört nach bisherigem religionsverfassungsrechtlichen (staatskirchenrechtlichen) Konsens, insbesondere nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass die Kirchen ihre Ämter 'auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses' konzipieren und vergeben". Daher dürften staatliche Gerichte die Eigenart des kirchlichen Dienstes nicht außer Acht lassen, zitieren die Autoren aus einem Urteil des Bundesverfassungsgericht. Der Täter habe im Kölner Fall als Inhaber des Weiheamtes und somit als Amtsträger gehandelt: "Vor dem Hintergrund des spezifisch römisch-katholischen Verständnisses vom Weiheamt trägt die im staatlichen Bereich gängige Unterscheidung von dienstlichen und außerdienstlichen bzw. amtsspezifischen bzw. amtsfernen Tätigkeiten bei römisch-katholischen Klerikern nicht", betonen die Rechtswissenschaftler.

Täter wegen hundertfachem Missbrauch verurteilt

Hintergrund ist die Klage einer heute 57-jährigen Frau gegen das Erzbistum Köln, die für den Missbrauch, den der als "Priester U." bekannte Täter an ihr als Pflegekind verübt hat, Schmerzensgeld erstreiten will. Der inzwischen aus dem Klerikerstand entlassene U. wurde 2022 vom Landgericht Köln in einem Strafprozess wegen hundertfachen Missbrauchs unter anderem seiner Nichten zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. In der Verhandlung Anfang Juli hatte der Vorsitzende Richter erkennen lassen, dass er zu der Ansicht neigte, dass das Erzbistum Köln nur dann als Dienstherr von Priester U. für dessen Taten zu belangen sei, wenn diese im Rahmen seines Dienstes ausgeführt wurden.

Rixen und Lüdecke sehen den damaligen Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner, in der Verantwortung. Höffner habe damals seine Zustimmung der Übernahme der Pflegschaft für die damals 12-jährige "erklärtermaßen mit Blick auf das Kindeswohl" erwogen und erteilt: "Damit hat er kraft seiner Amtsgewalt die pflegschaftliche Sorge um das Mädchen in den Aufgabenkreis seines Klerikers einbezogen, seinen Einsatz also im Einzelfall bewusst am Wohl des Mädchens ausgerichtet und im Hinblick auf diese 'dritte' Person konkretisiert." Bereits damals hätten aber schon Zweifel daran bestehen müssen, ob der Priester nicht aus egoistischen Gründen die Pflegschaft übernehmen wollte, und "ob ein Priester aufgrund seiner von der Zölibatspflicht implizierten Berufung zu Ehe- und Familienlosigkeit überhaupt"  geeignet sei, die angemessene Sorge für eine Jugendliche zu übernehmen. "Wäre dies seinerzeit in der gebotenen Weise geprüft und erwogen worden, hätte Kardinal Höffner die Übernahme der Pflegschaft nicht gestatten dürfen", so die beiden Professoren weiter. Höffner habe die Genehmigung zu der Pflegschaft in Ausübung seiner Befugnis erteilt, die Aufgaben des ihm unterstellten Klerikers zu definieren: "Er hat damit eine für das Mädchen gefährliche Situation herbeigeführt und unkontrolliert gelassen. Damit hat er seine Aufsichtspflicht sowohl über die klerikale Lebensführung des Klerikers wie auch zum Schutz des anvertrauten Kindes mindestens grob fahrlässig verletzt."

Lüdecke hatte bereits im Juli Kritik an der Vorstellung geäußert, bei einem Priester könne derart zwischen Privatleben und Dienst getrennt werden, wie es der Richter anscheinend annimmt. Auch die Kirchenrechtler an den Universitäten Tübingen und Münster, Bernhard Anuth und Thomas Schüller, äußerten sich kritisch. "Würde die Auffassung des Richters Schule machen, dann hätten Betroffene in Deutschland keine zivilrechtliche Chance", sagte Schüller gegenüber Medien. Das ganze Tatgeschehen sei nur möglich, wo Priester ihre Rolle als Seelsorger ausnützten, "um die Opfer körperlich und geistig verfügbar zu machen", kritisierte Schüller. Es sei "realitätsfern und pervers", davon auszugehen, dass ein Priester seine Opfer zwar im dienstlichen Kontext rekrutieren könne, sie dann aber privat vergewaltige. (fxn)