Zum Gesetz gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche

Religionsfreiheit in Gefahr? Kiews Religionspolitik polarisiert

Veröffentlicht am 24.08.2024 um 00:01 Uhr – Von Thomas Kremer (KNA) – Lesedauer: 

Kiew/Eichstätt ‐ Soll in der Ukraine vonseiten des Staates die Ukrainische Orthodoxe Kirche mit rund 8.000 Kirchengemeinden verboten werden? Thomas Kremer von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ordnet die Vorgänge ein.

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Am 20. August 2024 hat das ukrainische Parlament ein Gesetz "Über den Schutz der Verfassungsordnung auf dem Feld religiöser Organisationen" erlassen. Dieses beinhaltet weitreichende Möglichkeiten zum Verbot religiöser Organisationen. Im Kreuzfeuer steht die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK). Ist das das Ende der Religionsfreiheit in der Ukraine? So einfach, wie es erste Meldungen vermuten lassen, ist die Sache nicht.
Denn das Gesetz richtet sich generell gegen jede religiöse Organisation, die ihre Verwaltungszentren in einem fremden Land besitzt, welches eine kriegerische Aggression gegen die Ukraine ausübt. Dass eine direkte Verbindung zum russischen Aggressor und jede unmittelbare Einflussnahme der Russischen Orthodoxen Kirchen (ROK) in der Ukraine im Fokus stehen, liegt jedoch auf der Hand. Und auch wenn es sich theoretisch gegen jede religiöse Organisation in der Ukraine richtet, bei der derlei Tendenzen nachzuweisen sind, so betrifft es doch im Wesentlichen die Ukrainische Orthodoxe Kirche.

Derzeit rechnet man damit, dass der Prozess bis zum Inkrafttreten des Gesetzes neun Monate dauern wird. Das ist gleichsam die "Schonfrist", welche die Möglichkeit bieten soll, die Beziehungen zu Moskau abzubrechen. Das weitere Vorgehen sieht vor, dass die staatliche Stelle für ethnische Politik und Gewissensfreiheit eine Kommission aus Religionswissenschaftlern und Experten einsetzt. Im Verdachtsfall soll sie unter Berücksichtigung verschiedenster Aspekte und auch kirchenrechtlicher Fragen eine Expertise anfertigen, die als Grundlage für ein mögliches Verbot in einem anschließenden Gerichtsprozess dient.

Professor Dr. Thomas Kremer
Bild: ©Bistum Eichstätt (Montage katholisch.de) (Archivbild)

Thomas Kremer hat den Lehrstuhl für Theologie des Christlichen Ostens an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt inne. Der gebürtige Trierer ist Direktor der Forschungsstelle Christlicher Orient und Archimandrit der Melkitischen griechisch-katholischen Kirche.

Eine Untersuchung beginnt, wenn ein Verdachtsfall zur Anzeige gebracht wird. Die Kommission veröffentlicht den Beginn ihrer Untersuchung auf ihrer Website und sammelt Informationen und Dokumente, welche die Verbindung zum Aggressor beweisen oder widerlegen. Sollte sie einschlägige Nachweise erbringen können, wird der religiösen Organisation ein weiterer Monat eingeräumt, um die etwaigen Verstöße zu beseitigen und einen eigenen Bericht vorzulegen. Die Kommission kann dann über die Beilegung der Streitigkeit oder die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens entscheiden. Auch hier bleibt die Möglichkeit gewahrt, in Berufung zu gehen und das Urteil des Gerichts anzufechten.

Unterstützung des Verbots durch Vertreter anderer Konfession

Die Entscheidung zur Verschärfung und Zuspitzung des Gesetzes wird von Vertretern des Allukrainischen Rates der Kirchen und religiösen Organisationen unterstützt, eine Nichtregierungsorganisation, die rund 90 Prozent aller in der Ukraine vertretenen Religionsgemeinschaften repräsentiert. Wenngleich auf Initiative des ukrainischen Staates gegründet, vertritt dieser im Wesentlichen doch eine unabhängige Meinung und fungiert nicht wie eine vom Staat abhängige Marionette. Zu den Beratungen zum neuen Gesetz und zum Treffen mit dem Präsidenten waren die Vertreter der UOK, die Gründungsmitglied dieses Rates ist, gleichwohl nicht eingeladen, wodurch offenkundig ist, dass sie die eigentlich Betroffenen sind. Da ohne die Repräsentanten der UOK kein offizieller Beschluss möglich ist, haben die übrigen als einzelne Vertreter des Rates ihre Position bekundet.

Die religiöse Zusammensetzung der ukrainischen Bevölkerung ist äußerst vielfältig, und prinzipiell ist die Ukraine ein Staat mit einer echten, weitreichenden Religionsfreiheit, in dem sich religiöse Organisationen frei zusammenschließen und gleichsam nach Vereinsrecht organisieren können - ganz gleich, woran sie glauben. Auch private Treffen nichtregistrierter Gruppierungen zu religiösen Zwecken sind legal. Wenn der Staat nun eingreift, zielt er gar nicht auf religiöse Vorstellungen - höchstens insofern sie politisch aufgeladen sind und einer Sichtweise Vorschub leisten oder diese offen propagieren, in der das Existenzrecht der Ukraine bedroht ist. Dies gilt sicher für das Konzept der sogenannten "Russischen Welt" (Russkij Mir) in ihren unterschiedlichen Facetten, wie es von der Russischen Orthodoxen Kirche vertreten wird.

Auch die Bundesrepublik Deutschland hat die rechtliche Möglichkeit, religiöse Gruppierungen als verfassungswidrig einzustufen und zu verbieten. Ähnliches will die Ukraine für sich beanspruchen, doch sind die Umstände sehr viel komplexer, als wenn sich ein Staat vorbehält, gegen einzelne religiös extremistische Gruppen vorzugehen. Denn auch wenn es sich um ein allgemein formuliertes Gesetz handelt, so ist doch jedem klar, dass die UOK faktisch im Fokus steht. Für sie als orthodoxe Kirche, die zwar von der Unabhängigkeit von Moskau spricht, in der Sache aber nicht am Abbruch der Kirchengemeinschaft mit ihre Moskauer Mutterkirche interessiert sein kann, kommt es fast der Quadratur des Kreises gleich, wenn sie nun vor der Herausforderung steht, einerseits die Kooperation mit Moskau gänzlich aussetzen zu sollen, ohne andererseits auf der theologischen Ebene die Kircheneinheit und damit die Basis für den kanonischen Status ihrer Kirche aufzugeben. Dass damit die zweitgrößte religiöse Gruppe in der Ukraine getroffen wird, in der sich zudem viele den staatlichen Erhalt der Ukraine gleichwohl ohne den gänzlichen Bruch mit der russischen Orthodoxie wünschen, verleiht dem Ganzen seine besondere Brisanz.

Konfessionellen Zugehörigkeit nur vage nachzuvollziehen

Wenn in der Ukraine über die Größe von Religionsgemeinschaften diskutiert wird, dann sind die belastbarsten und am einfachsten zu greifenden Zahlen die der staatlich registrierten Kirchengemeinden. Hier hatte ohne Zweifel die Ukrainische Orthodoxe Kirche mit Abstand die meisten Gemeinden registriert, in Spitzenzeiten wohl über 13.000, und sie verfügt bis heute in jeder Hinsicht über die weitaus bessere Infrastruktur - etwa im Hinblick auf Ausbildungsstätten und Klöster - als die mit ihr konkurrierende Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU).

Orthodoxer Priester segnet Soldaten
Bild: ©picture alliance / ZUMAPRESS.com | Celestino Arce Lavin (Archivbild)

Ein orthodoxer Priester besprengt ukrainische Soldaten mit Weihwasser während des Gottesdienstes zum Dreikönigsfest im Dorf Memryk, in der Nähe der Frontlinien im Donbass (Aufnahme aus dem Jahr 2017) .

Da nach ukrainischem Recht Kirchengemeinden ihre kirchliche Zugehörigkeit durch Gemeindebeschluss relativ einfach ändern können, kam es in den letzten Jahren zu zahlreichen Übertritten von Gemeinden, und das auch bereits vor Beginn des Krieges, damals motiviert durch die Anerkennung der Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine durch Konstantinopel im Jahr 2019. Dennoch ist die Zahl der Gemeinden der UOK ungebrochen hoch.

Wie viele Gemeindeglieder sich jedoch faktisch hinter den einzelnen Gemeinden verbergen und wie die demographische Verteilung der Religionszugehörigkeit aussieht, ist eine andere Frage, da weder die Zahl der Gemeindeglieder noch persönliche Konversionen systematisch erfasst und daher nur geschätzt werden können.

Statistiken sind hier nur begrenzt belastbar, und dennoch offenbaren repräsentative Straßenumfragen ein interessantes Bild: Zum einen schwankt die Zahl der Menschen, die sich als orthodox bezeichnen, bei diesen Umfragen stark. Bereits seit Beginn der 2000er-Jahre bekennen sich immer mehr Menschen öffentlich zur Orthodoxie. Während sich vor Beginn des Ukrainekrieges im Jahr 2014 zwei Drittel aller Orthodoxen mit der moskautreuen Kirche identifizierten, stieg damals die Zahl der Gläubigen des von Moskau unabhängigen Kiewer Patriarchats sprunghaft an und verdoppelte sich in kurzer Zeit. Derzeit nimmt die Zahl derer, die sich öffentlich zur UOK bekennen, ab und liegt wohl unter 15 Prozent der Bevölkerung.

ROK und UOK - eine komplizierte Beziehung

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche ist - anders als es die Bezeichnung vielleicht vermuten lässt - keine autokephale Kirche im orthodoxen Sinn. Sie erhielt von Moskau 1990 eine gewisse Autonomie und hat sich seit 2022 bemüht, den Russlandbezug aus ihren Statuten zu entfernen, aber sie hat sich nie vollständig von Moskau gelöst. Ihr jetziges Verhältnis zur Russischen Orthodoxen Kirche ist unklar, und selbst Angehörige der UOK empfinden das Verhältnis zur ROK als äußerst komplex und beispiellos schwierig.

Patriarch Kyrill I. von Moskau un der ganzen Rus bei der Abschlusssitzung des Obersten Kirchenrats der Russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau im Jahr 2019.
Bild: ©Сергей Власов/patriarchia.ru (Archivbild)

Der Moskauer Patriarch Kyrill I. ist ein Parteigänger Putins und unterstützt dessen Angriffskrieg auch spirituell.

Nüchtern betrachtet stellt sich die Situation wohl so dar: Die UOK erklärte im Mai 2022 zwar ihre Unabhängigkeit, hat dabei aber den zentralen Begriff der Autokephalie vermieden und die Anerkennung Moskaus als höchste Instanz ihrer Kirche nicht formal aufgekündigt, weshalb sie berechtigt ist, innerhalb der Orthodoxie Kanonizität für sich zu beanspruchen. Eine denkbare Alternative wäre ein klarer Bruch durch die Erklärung der Autokephalie, wodurch die UOK unkanonisch würde und sich auf eine ungewisse Zukunft einließe.

Eine vollständige und zudem einvernehmliche Loslösung von Moskau unter Erhaltung des Status einer kanonischen orthodoxen Kirche ist nicht in Sicht. Damit ist die UOK in einem Dilemma. Einerseits wird sie nicht müde, den Krieg zu verurteilen, und doch bewahrt sie andererseits die Zuordnung zur Kirche von Moskau. Wenn das neue Gesetz die Tätigkeit der ROK in der Ukraine deshalb verbietet, weil sie den russischen Angriffskrieg tatkräftig unterstützt, wird dadurch unweigerlich auch die UOK betroffen. Das neue Gesetz stellt zudem auch eine prophylaktische Vorkehrung gegenüber einem möglichen Ansinnen der ROK dar, eigene Gemeinden in der Ukraine zu gründen, was mit dem Gesetz sicher ausgeschlossen werden kann.

Konsequenzen eines Verbots der UOK

Für die Ukrainische Orthodoxe Kirche begründet das neue Gesetz in der Tat unmittelbaren Handlungsbedarf, will sie nicht Verbote ihrer Eparchien, Klöster und Kirchengemeinden riskieren, denn faktisch residiert das Oberhaupt ihrer Kirche in Moskau. Daher muss sie ihren Worten über die Unabhängigkeit von Moskau nun unbedingt weitere, deutlich erkennbare Taten folgen lassen. Ob die Bereitschaft dazu besteht und ob es dann ausreichen wird, eine erkennbare Selbstverwaltung zu praktizieren, den Krieg zu verurteilen und sich ukrainischen Patriotismus anzueignen, die direkte Kooperation mit Moskau einzufrieren, Moskau unterstehende stauropegiale Klöster in die eigene Jurisdiktion zu überführen, pro-russische Literatur aus den Lagern der Kirche zu entsorgen, sich als über jeden Verdacht der Konspiration erhaben zu erweisen und andere Maßnahmen zu ergreifen, welche die Kanonizität der Kirche nicht unbedingt gefährden müssen, wird sich zeigen.

Direkte Verhandlungen mit Konstantinopel oder gar die Vereinigung mit der OKU zeichnen sich ebenso wenig ab wie die einseitige Erklärung der Autokephalie mit ihren weitreichenden Folgen. Ob man sich staatlicherseits mit einer möglichst umfassenden Distanzierung letztendlich zufriedengeben oder Verbote tatsächlich umsetzen wird, lässt sich schwer prognostizieren. Da nach ukrainischem Recht nur einzelne Eparchien, Klöster und Kirchengemeinden, nicht jedoch die Kirche als Ganze als juristische Personen gelten, sind Verbotsverfahren sicher auch juristisch sehr komplexe Vorgänge, die eine sehr differenzierte Vorgehensweise erfordern und das Verhalten einzelner Verantwortlicher genau in den Blick nehmen müssen, da eine Vielzahl von Prüfungen und Gerichtsverfahren anstünde. Eine erläuternde Erklärung zum Gesetz geht jedoch nur von möglichen Verfahren gegen die Kirchenleitung und ihre Verwaltung aus, also primär von Verfahren gegen Bischöfe und Bistümer, nicht gegen jede einzelne Kirchengemeinde.

UOK-Theologen in Deutschland wollen in ihrer Kirche bleiben

Ein Verbot größerer Teile der UOK hätte jedenfalls unterschiedliche Auswirkungen auf ihre Gläubigen, abhängig von ihrer Bindung zur Kirche. Ein Teil der Gläubigen, die weniger tief in ihrer Kirchenzugehörigkeit verwurzelt sind, würde sich sicher von der UOK abwenden und in der OKU einen neuen Anschluss finden. Andere, die tief mit ihrer Kirche verbunden sind, werden ihr trotz eines Verbots die Treue bewahren und in den Untergrund gehen.

Die große Mehrzahl der in Deutschland lebenden Theologiestudenten der UOK lässt keinerlei Ambitionen erkennen, sich einer anderen Kirche anschließen zu wollen. Für sie ist jedoch klar, dass Verbote die kirchlichen und die gesellschaftlichen Spannungen nicht lösen, sondern verschärfen würden. Sie befürchten eine Stigmatisierung der Angehörigen der UOK innerhalb der ukrainischen Gesellschaft und die Zuschreibung einer pro-russischen, moskautreuen Position, welche in ihren Augen nicht der Realität ihrer patriotischen Haltung gegenüber der Ukraine entspricht und daher als ungerecht empfunden wird.
Andererseits unterstützt eine Mehrzahl der Bürger der Ukraine das Gesetz, da sie darin ein wirksames Instrument erkennen, gegen eine aus Moskau gesteuerte politische Agitation vorgehen zu können, die sich der Religion als Schutzraum bedient.

Flurbereich im Collegium Orientale in Eichstätt.
Bild: ©KNA/Christopher Beschnitt (Archivbild)

Im Collegium Orientale in Eichstätt leben und lernen Priesterkandidaten verschiedener katholischer und orthodoxer Ostkirchen.

Dass die Ukraine darauf drängt, den politischen Einfluss der Russischen Orthodoxen Kirche mit ihrer dezidiert pro-russischen Haltung in ihrem Land zurückdrängen zu wollen, ist nur allzu verständlich. Sollte aber die zweitgrößte Kirche der Ukraine sukzessive in den Untergrund abwandern, so würde damit ein innenpolitisches Problem verlagert und nicht gelöst werden. Dies sollte stets im Blick behalten werden.

Orthodoxe Ukrainer im Ausland

Für die Orthodoxen, die als Geflüchtete zu uns kommen, ist die kirchliche Situation nicht einfach: Die ROK ist beispielsweise in Deutschland bestens organisiert, und sie wäre die natürliche Heimat für Angehörige der UOK; für manche ist sie auch hier zur Heimat geworden, andere scheuen den Kontakt mit russischen Gläubigen. Eigene Gemeinden der UOK entstehen nur langsam; dass die Konsequenzen des neuen Gesetzes sie in Deutschland treffen könnten, ist eher unwahrscheinlich, denn dazu müsste der deutsche Verfassungsschutz Handlungsbedarf erkennen.

Der OKU ist die eigenständige Gründung von Gemeinden im Ausland kirchlich verboten; auch hier entstehen neue Strukturen unter der Jurisdiktion von Konstantinopel nur zögerlich. Viele Orthodoxe suchen auch bei anderen orthodoxen Kirchen Heimat, sogar auch bei der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Bei letzterer überwiegt inzwischen die gemeinsame Nationalität und Sprache oftmals die historischen Probleme.
Vielfach entsteht aber der Eindruck, orthodoxe Ukrainer bei uns sind wie "Schafe, die keinen Hirten haben" - eine in vieler Hinsicht unbefriedigende Situation. Insgesamt sind sie heilfroh darüber, in Deutschland in Frieden und Wohlstand leben zu dürfen. Das gilt auch für die Studierenden und Stipendiaten unserer Universität, die für die friedliche Ruhe des Altmühltals sehr dankbar sind.

Von Thomas Kremer (KNA)