Hätte es die Reformation ohne Luther gegeben?
Traurige Erinnerung an die Kirchenspaltung oder Fest der Befreiung? Am 31. Oktober feiern Katholiken eher nichts – evangelische Christen schon. Vor genau 507 Jahren soll Martin Luther seine 95 Thesen an die Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben. Der Ausgangspunkt für die Reformation, ausgelöst von einem deutschen Mönch und Theologen. Während der Luthersche Thesenanschlag mittlerweile eher als Legende gilt, widmet sich katholisch.de einer viel spannenderen Frage: Hätte es die Reformation auch ohne Luther gegeben?
Das späte Mittelalter war geprägt von innerkirchlichen wie äußeren Reformbemühungen. Ein Grund dafür ist die aufkommende intellektuelle Strömung des Humanismus. Nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 brachten flüchtende Gelehrte einen großen Kanon an griechischen Schriftstücken nach Italien. Durch die Einbeziehung dieser Literatur entwickelte sich der Humanismus – der sich scharf vom "Mittelalter" ab- und der Antike zuwandte. Moderne Forscher sind sich uneinig, ob es sich wirklich um einen radikalen Bruch oder eine kontinuierliche Weiterentwicklung mittelalterlicher Denkansätze handelt.
Der Humanismus und Erasmus von Rotterdam
"Es gibt für mich viele Indizien, dass es um 1500 – auch durch den Humanismus angefeuert – eine Reformstimmung in der Kirche gab", erklärt Matthias Pohlig, Professor für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Humboldt Universität zu Berlin. Eines seiner Spezialgebiete ist die kontrafaktische Geschichtsschreibung, also die Fragen nach dem "Was wäre, wenn?".
Die Reformstimmung in der Kirche wurde besonders geprägt durch den bedeutendsten Vertreter des Humanismus zur Zeit Luthers: Erasmus von Rotterdam. "Für sehr viele reformbewusste Menschen, auch Lutheranhänger, war Erasmus von Rotterdam schon vorher eine religiöse Galionsfigur", betont Matthias Pohlig. Der niederländische Universalgelehrte sei unverzichtbar für die Entwicklung der Reformation gewesen. Er habe versucht, die Bibel stärker in den Mittelpunkt zu rücken und auch für eine ganz praktische Form von Frömmigkeit gestanden. Er habe in kontroversen Streitigkeiten oft eine besondere Position vertreten, die Pohlig so zusammenfasst: "Diese ganzen theologischen Spezialprobleme versteht sowieso niemand. Es kommt auf die Nachfolge an, nicht einen theologischen Streit über die Frage nach dem freien Willen."
Um eben diese Frage stritt Erasmus auch mit Luther. In ihrem regelmäßigen Briefwechsel hatte er Luther bereits zuvor um Mäßigung gebeten und von einer inneren Reform der Kirche überzeugen wollen. Mit seiner Schrift "De libero arbitrio" (Vom freien Willen) verteidigte er nicht nur die kirchliche Position zur Willensfreiheit, sondern distanzierte sich deutlich von der Reformation und lehnte eine Abwendung vom Papsttum klar ab. Luther empfand das als Verrat. Dabei ist "De libero arbitrio" geprägt von Verständnis für die reformatorische Kritik an Korruption im Priesterstand, Heuchelei der Kirche und dem Ablasshandel.
Die theologische Stimmung
Mit der "Galionsfigur" Erasmus, der in engem Austausch mit seinem einstigen Lehrer, dem amtierenden Papst Hadrian VI., stand, hatte der Humanismus als kirchliche Reformbewegung einflussreiche Vertreter innerhalb der kirchlichen Hierarchie.
Bedeutet das, dass über sie oder andere Theologen eine innerkatholische Reform anstelle der Reformation möglich gewesen wäre – ohne Luther oder einen anderen Reformator? "Nicht selbstverständlich", erklärt Pohlig. Der Katholizismus vor dem Konzil von Trient sei "extrem vielgestaltig" und bei weitem nicht nur vom Humanismus geprägt gewesen. "Es gab theologische Gruppen mit sehr auf den Papst ausgerichteten hierarchischen Tendenzen und gleichzeitig eine starke laikale Beteiligung und Laienfrömmigkeit."
Die kirchenpolitische Stimmung zur Zeit Luthers war aufgeladen mit dem Wunsch nach Veränderung – aber keinesfalls einer Einigung darüber, wie diese Veränderung aussehen sollte. Wie konnte sich gerade ein kleiner deutscher Theologe durchsetzen und zur Schlüsselfigur werden?
Die politische Rahmung
Nicht nur die innerkirchliche Stimmung, sondern auch die gesamtgesellschaftliche Situation – damals deutlich weniger auseinanderzuhalten als heute – strebte auf Veränderung zu. 1531 sagte sich Heinrich der VIII. mit der Gründung der "Church of England" aus machtpolitischen Gründen vom päpstlichen Einfluss los. Aber im Heiligen Römischen Reich herrschten die idealen Bedingungen für eine tatsächliche Reformation vor.
„Es gibt durchaus die Vorstellung, dass 99 Prozent der Sachen, die Luther gesagt hat, bereits hundertmal zuvor gesagt worden sind.“
Auch Kaiser Karl V. war ein ehemaliger Schüler des amtierenden Papstes, Hadrian VI. und von diesem stark in seiner Frömmigkeit geprägt. Nach der Exkommunikation Luthers 1521 wäre die Verhängung der sogenannten "Reichsacht", die dem Betroffenen alle Rechte entzog und ihn für vogelfrei erklärte, nur eine Formsache. Das zog sich allerdings in die Länge, weil der römisch-deutsche Kaiser mit dem Krieg gegen Frankreich und das Osmanische Reich beschäftigt war und sich über längere Perioden nicht in seinem Reichsgebiet aufhielt.
Und ebendieses Reich war auch kein einheitliches Königtum wie in den Nachbarländern, sondern bestand aus sieben Kurfürstentümern mit jeweils eigenen territorialen Rechten. Unverzichtbar für Luthers Erfolg war es also, einen seiner wichtigsten Unterstützer im Kurfürsten von Sachsen, später Friedrich der Weise genannt, zu finden. Auch wenn Karl V. nach dem Reichstag zu Worms im Sinne des Papstes "endlich" gegen Luther durchgriff und die Reichsacht verhängte, konnte der Reformator von seinen Unterstützern geschützt werden.
Die Medienöffentlichkeit
Und noch eine weitere Veränderung, eine technologische, machte die Reformation überhaupt erst möglich: Matthias Pohlig sieht einen Schlüsselpunkt des Erfolges von Luther in der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Dieser wird zum Triebmotor des Humanismus und später der Reformation.
Diesen gekonnt zu nutzen, sieht Pohlig als eine nicht zu unterschätzende Eigenleistung Luthers. Sein Sprachtalent – ob als Verfasser theologischer Schriften oder "Stimme des Volkes" – habe ihn aus der Masse der Theologen seiner Zeit hervorgehoben. Während also Luthers Ideen nicht einzigartig waren, war er als Person nicht unbedingt leicht zu ersetzen.
Matthias Pohlig fasst es wie folgt zusammen: "Es gibt durchaus die Vorstellung, dass 99 Prozent der Sachen, die Luther gesagt hat, bereits hundertmal zuvor gesagt worden sind. Trotz seiner eigenen Leistungen brauchte die Persönlichkeit Luther auch diese Medienöffentlichkeit, diese politische Rahmung und diese theologische Stimmung, damit die Reformation so ablaufen konnte."
Und die Geschichte zeigt: Luther war nicht der einzige erfolgreiche Reformator seiner Zeit und Deutschland nicht die einzige Nation mit einem Bedürfnis nach Veränderung: "Es gab eine ganze Reihe weiterer Menschen außerhalb Deutschlands, die in dieser Zeit sehr stark auf eine religiöse Erneuerung setzten – auf unterschiedlichste Weise. Im Grunde gehört auch Ignatius von Loyola in diese Reihe", erklärt Pohlig.
Dass es ohne Luther gar keine Form von Reformation gegeben hätte, ist unwahrscheinlich, denn noch andere lasen die Ideen von Erasmus: 1522 veröffentlichte in Zürich Huldrych Zwingli seine erste reformatorische Schrift gegen das Fasten der römischen Kirche, ein Jahr später versammelten sich ganze sechshundert geistliche und weltliche Vertreter zur ersten Zürcher Disputation. Das Thema: "Ist Zwingli ein Ketzer?" Matthias Pohlig geht davon aus, "dass ohne Luther Zwingli in Zürich trotzdem eine Art von kirchenpolitischer Reformation durchgeführt hätte. Wie die dann verlaufen wäre, ist allerdings schwierig zu sagen."
Sicher ist aber: Die von Luther beim angeblichen Thesenanschlag vor 507 Jahren kritisierten Missstände der Kirche wurden bereits von engen Vertrauten des Papstes, etwa Erasmus, bemängelt. Auch in den verschiedensten Strömungen innerkirchlicher Reformbewegungen war man sich einig: Es ist Zeit für Veränderungen.
Doch mit Luther kam mehr als eine bloße Veränderung der Kirche. Dass seine anfänglichen Kritikpunkte allerdings auch kirchenintern bereits diskutiert wurden und nicht so radikal neu waren, wie es oft den Anschein haben mag, zeigt sich vor allem im Konzil von Trient. Viele reformatorische Gedanken fließen nach der Kirchenspaltung in die Konzilsdokumente ein.
"Das ist nicht nur ein Versuch, der Reformation etwas entgegenzusetzen, sondern auch bestimmte als legitim erkannte Kritikpunkte der Reformation aufzunehmen und für die römische Kirche produktiv zu machen", erklärt Matthias Pohlig. Er vermutet: "Sie wären wahrscheinlich sogar noch stärker aufgenommen worden, wenn es nicht gleichzeitig darum gegangen wäre, eine scharfe Abgrenzung gegenüber der Reformation zu schaffen."