Krämer: Organisationsstrukturen unserer Diözese kritisch hinterfragen
Am 2. Oktober wurde Prälat Klaus Krämer zum neuen Bischof von Rottenburg-Stuttgart ernannt. In knapp zwei Wochen, am 1. Dezember, wird der 60-jährige Geistliche im Rottenburger Dom zum Bischof geweiht und in sein neues Amt eingeführt. Im Interview mit katholisch.de spricht Krämer vorab über seine Gefühle am Tag seiner Ernennung, die nun vor ihm liegende Aufgabe und die zentralen Herausforderungen seiner Diözese und der katholischen Kirche in ganz Deutschland. Außerdem äußert er sich zur Bedeutung von Spiritualität und zu seinem Vorvorgänger Kardinal Walter Kasper.
Frage: Prälat Krämer, nach Ihrer kurzen persönlichen Erklärung bei der Bekanntgabe Ihrer Wahl zum neuen Bischof von Rottenburg-Stuttgart Anfang Oktober haben Sie sich öffentlich nicht mehr zu Wort gemeldet. Erst jetzt, gut sechs Wochen später, geben Sie erste Interviews. Warum?
Krämer: Weil die vergangenen Wochen so dicht gefüllt waren. Die Zeit zwischen der Bekanntgabe meiner Wahl und der Amtsübernahme am 1. Dezember ist ja nur relativ kurz, zugleich waren und sind noch sehr viele Dinge zu regeln. Als Ständiger Vertreter des Diözesanadministrators bin ich nach wie vor für die gesamte Verwaltung der Diözese zuständig, deren Betrieb natürlich auch in der Phase der Vakanz seit dem Rücktritt von Bischof Gebhard Fürst unverändert weitergegangen ist. Inzwischen aber ist, glaube ich, ein guter Zeitpunkt gekommen, den Blick nach vorne und über den 1. Dezember hinaus zu richten und mich auch entsprechend öffentlich zu äußern.
Frage: Sie sagen, es gab viel zu regeln. Wie haben Sie die Zeit seit Ihrer Ernennung darüber hinaus erlebt? Von was waren die vergangenen Wochen geprägt?
Krämer: Vor allem von sehr viel Zuspruch und vielen positiven Reaktionen, die mich auf allen möglichen Wegen erreicht haben. Das war wirklich überwältigend und eine sehr schöne und ermutigende Erfahrung. Dieser Zuspruch hat mir Schwung gegeben, all die Dinge, die bis zur Amtsübernahme noch zu erledigen sind, beherzt anzugehen und so weit voranzubringen, dass es nach dem 1. Dezember auch gut weitergehen kann.
Frage: Sie sprechen von viel Zuspruch und positiven Reaktionen. Wurden auch schon konkrete Erwartungen an Sie herangetragen?
Krämer: Die guten Wünsche haben deutlich überwogen. Außerdem haben mich schon sehr viele Einladungen zu Veranstaltungen im kommenden Jahr erreicht; dass der Kalender nicht gut gefüllt sein könnte, muss ich nicht befürchten (lacht). Aber klar: Die Erwartungen sind natürlich groß, dass jetzt bald wichtige Entscheidungen getroffen werden, wie es mit der Zukunft der Diözese weitergeht. Das spüre ich schon.
Frage: Darüber sprechen wir gleich noch detaillierter. Zunächst aber zu Ihnen: Sie haben bereits zahlreiche berufliche Stationen absolviert – darunter auch einige herausgehobene Leitungsposten wie die Präsidentenämter bei missio Aachen und den Sternsingern. Sind Sie mit Blick auf das Bischofsamt, durch das man ja nochmal ganz anders in der Öffentlichkeit steht, trotzdem ein bisschen aufgeregt?
Krämer: Ja, ein bisschen Aufregung ist schon dabei. Das Amt als Diözesanbischof ist mit großen Herausforderungen und vielen verschiedenen Aufgaben verbunden – gerade in der heutigen Zeit. Auch wenn ich die Diözese schon sehr gut kenne, werde ich sicher etwas Zeit brauchen, in das neue Amt hineinzuwachsen.
„Die Zukunft unserer Diözese und unserer Kirche als Bischof gemeinsam mit vielen engagierten Menschen aktiv mitgestalten zu können, ist eine Chance, für die ich sehr dankbar bin.“
Frage: Freuen Sie sich denn auf die Aufgabe als Bischof? Immerhin steckt die katholische Kirche in Deutschland seit Jahren in einer tiefen Krise. Und angesichts knapper werdender finanzieller und personeller Ressourcen dürften die Herausforderungen auch nicht kleiner werden. Die Aufgabe als Bischof dürfte vor diesem Hintergrund nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig sein ...
Krämer: Das ist sicher so – und trotzdem freue ich mich auf die Aufgabe. Die Zukunft unserer Diözese und unserer Kirche als Bischof gemeinsam mit vielen engagierten Menschen aktiv mitgestalten zu können, ist eine Chance, für die ich sehr dankbar bin. Aber klar: Wir befinden uns mitten in einem großen Transformationsprozess, von dem wir noch nicht genau wissen, wohin er uns führen wird. Auf jeden Fall werden in den kommenden Jahren in relativ kurzer Zeit sehr dicke Bretter zu bohren sein, um in der Diözese manches neu zu bedenken und zu strukturieren. Und das wird sicher nicht völlig ohne Schmerzen vonstattengehen.
Frage: Benedikt XVI. hat einst erzählt, dass er ein "Fallbeil" auf sich habe herabfallen sehen, als sich abzeichnete, dass das Konklave ihn zum Papst wählen würde. Wie war das bei Ihnen, als Sie von Ihrer Wahl zum Bischof erfahren haben?
Krämer: Als ich davon erfahren habe, habe ich schon sehr tief durchgeatmet. Denn natürlich war mir sofort bewusst, welche Verantwortung nun auf mich zukommt. So ganz cool geblieben bin ich in dem Moment nicht.
Frage: Als Bischof sind Sie zuallererst der Oberhirte Ihrer Diözese. Als Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz müssen Sie aber natürlich auch die Kirche in ganz Deutschland im Blick behalten. Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage der katholischen Kirche in der Bundesrepublik?
Krämer: Sie haben es ja schon richtig gesagt: Die Kirche in Deutschland befindet sich seit vielen Jahren in einer schweren Krise. Dabei gilt: Bei allen graduellen Unterschieden stehen alle 27 Diözesen vor ähnlichen Herausforderungen. Insofern ist es sicher geboten, sich unter den Diözesen gut abzustimmen und möglichst viele Dinge gemeinsam anzugehen. Ich denke, dass diesbezüglich noch Luft nach oben ist. Meine Überzeugung ist: Viele Probleme werden wir nur in einem guten Miteinander aller 27 Diözesen lösen können.
Frage: Ende Oktober ist im Vatikan die Weltsynode zur Synodalität zu Ende gegangen. Versprechen Sie sich von der Synode konkrete Impulse für die Kirche in Deutschland und mögliche Reformen, wie sie etwa der Synodale Weg gefordert hat?
Krämer: Mein Eindruck ist, dass durch die Synode in gewisser Weise ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der nun mit Leben gefüllt werden muss. Erste Ansätze sind bereits erkennbar: Vielerorts werden neue Formen von Synodalität eingeübt, es wird offener diskutiert und Entscheidungen werden stärker partizipativ getroffen. Hinzu kommt, dass die Synode – jedenfalls nach meiner Wahrnehmung – einige Debatten neu geöffnet hat, die schon als abgeschlossen galten. Das gilt auch für manche der Reformfragen, die auf dem Synodalen Weg diskutiert worden sind – was wiederum auch gezeigt hat, dass wir Deutsche mit unseren Debatten nicht allein in der Weltkirche stehen. Klar ist aber auch: Grundlegende Veränderungen etwa bei der Frage nach einer Zulassung von Frauen zum Priesteramt oder der Zukunft des Zölibats sind noch nicht absehbar. Hier braucht es weiter Geduld.
Frage: Synodalität hat mit dem "Rottenburger Modell" eine lange Tradition in Ihrer Diözese. Werden Sie als Bischof darauf hinarbeiten, dass Rottenburg-Stuttgart seine Vorreiterrolle in diesem Bereich behält?
Krämer: Ich bin sehr dankbar dafür, dass viele Dinge, die beim Synodalen Weg und jetzt bei der Weltsynode diskutiert wurden, in unserer Diözese seit mehr als 50 Jahren gelebte Praxis sind. Die Entwicklung hin zu mehr Synodalität in unserer Kirche ist eine große Ermutigung, den Weg des "Rottenburger Modells" konsequent weiterzugehen. Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, werden wir dieses Modell sicher auch weiterentwickeln müssen. Das ist eine Aufgabe, auf die ich mich freue.
Frage: Sie stammen aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart und haben bereits mehrere Jahre in leitender Funktion im Ordinariat gearbeitet. Sie dürften die Diözese also bestens kennen. Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen und was davon wollen Sie nach Ihrem Amtsantritt prioritär angehen?
Krämer: Eine große Aufgabe für die nahe Zukunft wird sicher sein, die gesamte Organisationsstruktur unserer Diözese kritisch zu hinterfragen – angefangen bei der Leitungsebene bis hinunter in die Kirchengemeinden. Was müssen wir verändern, um effizienter und schlagkräftiger zu werden? Wie können wir unser pastorales Personal so einsetzen, dass es den Menschen in unserer Diözese bestmöglich zugutekommt? Das sind Fragen, denen wir uns mit Hochdruck widmen müssen. Dafür ist es hilfreich, dass ich viele der Akteure, die dabei mitwirken müssen, schon sehr gut kenne.
Frage: Anders als andere Diözesen hat Rottenburg-Stuttgart bislang kaum Pfarreien zusammengelegt; die Zahl der Pfarreien liegt immer noch bei rund 1.000. Wie wird es diesbezüglich in den kommenden Jahren weitergehen?
Krämer: Wir haben in der Tat noch mehr als 1.000 rechtlich selbstständige Pfarreien, die wir allerdings schon vor gut 25 Jahren in größeren Seelsorgeeinheiten zusammengeführt haben, die seither die eigentlichen pastoralen Grundeinheiten bilden. Trotzdem ist offenkundig, dass wir uns eine solche Kleinteiligkeit in Zukunft nicht mehr werden leisten können. Wir werden sehr zeitnah gemeinsam überlegen müssen, welchen Weg wir als Diözese bei den Seelsorgeeinheiten gehen wollen, wie die Einheiten zugeschnitten werden sollen und welche Strukturen es braucht, um auch in Zukunft eine gute pastorale Arbeit zu ermöglichen.
Frage: Als missio-Chef haben Sie viele Erfahrungen in und mit der Weltkirche gemacht. Wie sehr hat Sie das geprägt und auf welche Weise wollen Sie diese Erfahrungen vielleicht auch in Ihre Arbeit als Bischof einbringen?
Krämer: Den Dialog mit der Weltkirche habe ich immer als etwas sehr Wertvolles empfunden und der theologische Austausch mit ganz unterschiedlichen Gesprächspartnern auf allen Ebenen hat mich enorm geprägt. Natürlich stehen wir alle in unterschiedlichen Kontexten – dennoch bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir immer voneinander lernen können. Wenn es darum geht, unseren Grundauftrag zu erfüllen – nämlich das Evangelium zu leben und zu verkünden –, kann der internationale Austausch befruchtend wirken und neue Impulse vermitteln. Diesen Austausch möchte ich in unserer Diözese weiter intensivieren.
„Erst wenn in ein paar Jahren der Abschlussbericht der Aufarbeitungskommission vorliegt, wird eine genaue Bewertung auch der Amtszeit von Kardinal Kasper möglich sein, zu der er sich dann auch verhalten kann.“
Frage: Sie waren als Herausgeber an einem Buch mit dem Titel "Weltkirchliche Spiritualität. Den Glauben neu erfahren" beteiligt. Was denken Sie: Braucht die Kirche in Deutschland mehr Spiritualität?
Krämer: Die Spiritualität ist das Herz christlicher Existenz und hat eine ganz große Bedeutung. Insofern sollten wir uns sehr darum bemühen, eine Spiritualität zu entwickeln, die in unsere Zeit passt und die Menschen von heute erreicht – auch, weil ich bei vielen Menschen diesbezüglich einen großen Hunger wahrnehme. So wichtig strukturelle Fragen sind: Wir dürfen es nicht dabei belassen, sondern müssen uns viel stärker auch der spirituellen Herausforderung stellen.
Frage: Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs bleibt ebenfalls ein Thema: Die Aufarbeitungskommission der Diözese hat dem Bistum in einem Zwischenbericht im April für den früheren Umgang mit Missbrauch ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. Vorherrschend seien lange Zeit "Dilettantismus, Überforderung und Inkompetenz, Verschleierung oder Vertuschung" gewesen, hieß es damals. Wie gehen Sie als künftiger Bischof mit diesem Befund um?
Krämer: Die weitere Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs hat hohe Priorität, sie ist für mich Chefsache. Es ist deshalb für mich keine Frage, dass ich mich sehr bald nach meiner Amtsübernahme mit allen Gremien zusammensetzen werde, um die nächsten notwendigen Schritte zu beraten und dann auch einzuleiten. Was die Strukturen angeht, sind wir, so denke ich, gut aufgestellt: Bischof Fürst hat bereits im Jahr 2002 die Kommission sexueller Missbrauch eingerichtet, bei der seither alle bekannten Missbrauchsfälle behandelt werden. Hinzu kommt die unabhängige Aufarbeitungskommission, die alle Fälle aufarbeitet und laut Plan im Februar 2027 ihren Abschlussbericht vorgelegen wird.
Frage: Die Kommission hat im April eine "problematische Gemengelage" der Diözese im Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker "bis in die 1990er Jahre hinein" diagnostiziert. Damit ist auch die Amtszeit ihres Vorvorgängers Kardinal Walter Kasper in den Fokus geraten, der bis 1999 Bischof von Rottenburg war. Hätten Sie sich gewünscht, dass Kardinal Kasper sich dazu öffentlich erklärt hätte?
Krämer: Ich glaube, dass für eine solche Erklärung noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Eine detaillierte Bewertung der Amtszeit von Kardinal Kasper liegt schließlich noch gar nicht vor; der Bericht vom April 2024 war ja nur ein Zwischenbericht. Erst wenn in ein paar Jahren der Abschlussbericht der Aufarbeitungskommission vorliegt, wird eine genaue Bewertung auch der Amtszeit von Kardinal Kasper möglich sein, zu der er sich dann auch verhalten kann.
Frage: "In ein paar Jahren" – das ist bei einem 91-Jährigen durchaus ein gewagter Zeithorizont, finden Sie nicht?
Krämer: Vielleicht wird der Bericht der Kommission ja auch schon früher veröffentlicht – dann kann er sich früher dazu äußern. Der Kommission gegenüber hat Kardinal Kasper bereits ausführlich Rede und Antwort gestanden. Jetzt ist es an der Kommission, seine Aussagen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und auf Plausibilität zu prüfen.