Mediziner: Spiritualität im Gesundheitssystem ist wichtige Ressource
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Der Dialog mit Patienten zu deren Spiritualität kann in der Medizin hilfreich, sagt Eckhard Nagel. Er ist Chirurg und Transplantationsmediziner, Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth, Doktor der Philosophie sowie Ehrendoktor der Theologie. Im Interview spricht er über Potenziale und Leerstellen.
Frage: Sie haben an unheimlich vielen Fronten mit dem Thema Tod und Sterben zu tun, natürlich als Transplantationsmediziner, als Philosoph, als Theologe und privat. Es fällt mir nicht leicht, Sie danach zu fragen, aber ich würde gerne über Ihre persönliche Erfahrung sprechen. Sie haben zweimal ein Kind verloren. Können Sie davon erzählen?
Nagel: Das ist tatsächlich nichts, was ich gerne in die Öffentlichkeit trage. Es ist aber bekannt, insofern kann man auch darüber sprechen. Es ist der Moment, denke ich, wo sich für alle Eltern – Vater oder Mutter – die Erde auftut und wo ein unendliches, tiefes schwarzes Loch ohne erkennbares Ende vor einem liegt. Insofern ist es natürlich auch eine grundlegende Veränderung des eigenen Lebens. Man ist von Natur aus darauf vorbereitet, eine nächste Generation, so man sie empfangen und großziehen darf, immer damit zu verbinden, dass sie einen selbst am Ende des Lebens begleitet. Und wenn das unerwartet anders geschieht, dann ist es eine Tragödie im umfassenden Sinne. Insofern sind das natürlich Momente, die einem niemals mehr aus den Gedanken und aus der eigenen Genetik heraus gehen werden, sondern die einen dauerhaft in Hinblick auf Haltung, im Hinblick auf Einstellungen und im Hinblick auf Perspektiven einnehmen und mitbestimmen.
Frage: Wie fühlt sich diese Trauer heute an? Sie verändert sich ja auch über Jahre.
Nagel: Trauer verändert sich tatsächlich. Wir reden hier über Ereignisse, die fast 30 Jahre her sind. Insofern hat sich im Sinne des Verarbeitens der Trauer natürlich eine ganz andere Grundhaltung ergeben.
Die wesentliche Grundhaltung in meinem Leben heute ist Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Begegnung, auch mit den Kindern in meinem Leben, die nur kurz auf dieser Erde waren. Sie gehören aber in das Ganze einer wunderbaren Familie. Insofern ist das natürlich heute eine völlig andere Perspektive als 1996 oder 1997.
Frage: Können Sie sagen, wie Sie das überlebt haben?
Nagel: Einmal hat man das mit Menschen geschafft, weil Menschen einen unterstützt haben. Und Menschen sind natürlich in dem Fall meine Frau und unsere älteste Tochter, meine Eltern, aber vor allem Freundinnen und Freunde, die mit einem diesen Weg gegangen sind, die einen respektiert haben in der Traurigkeit, in der Ratlosigkeit, in der Verzweiflung, in der Wut und in der Ungehaltenheit, die bisweilen Teil eines solchen Trauerprozesses ist. Also ganz wesentlich sind es die Mitmenschen. Zum anderen ist es tatsächlich in meinem Fall der Glaube, der durch diese Ereignisse wie durch kein anderes Ereignis in meinem Leben infrage gestellt wurde und der zu einer intensiven und auch wütenden Debatte mit Gott geführt hat. Das Gefühl des Verlassenseins, das Gefühl des Ausgestoßenseins, alles das, was wir in der Hiob-Geschichte an verschiedensten Stellen lesen können, ist auch Gegenstand meiner persönlichen Debatte mit Gott gewesen und bis heute immer noch wieder Teil eines aber sehr lebendigen Dialoges. Dass dieser Dialog durch dieses Ereignis gestärkt, lebendiger und auch wirklich lebensbestimmender geworden ist, das hätte ich Ihnen vor knapp 30 Jahren so nicht gesagt. Das kann ich heute durch den Lauf der Dinge sagen und auch empfinden. Insofern ist dieses Prozesshafte sowohl mit Menschen wie im Glauben, glaube ich, das Wesentliche, worüber man berichten kann. Für jemanden, der in einer solchen Phase irgendwo im Tunnel steckt, ist es schwer, sich das vorzustellen. Im Rückblick und mit der Erfahrung kann man das aber so beschreiben.
„Es gibt Studien dazu, wie Menschen, die in einer starken Verbindung zu ihrer eigenen Gemeinde operiert werden, sich schneller von dieser Operation erholen als Menschen, die stark isoliert sind.“
Frage: Verständlich, dass Sie sich nach dieser Erfahrung heute dafür einsetzen den Glauben oder Spiritualität in der Medizin zu nutzen. Sie engagieren sich bei der Initiative "SpeCi – Spiritual / Existential Care interprofessionell", also spirituelle und existenzielle Sorgearbeit, geleistet von Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen. Was genau ist das?
Nagel: Ich glaube, man kann gar nicht genau definieren, was es ist. Worum es aber geht, kann man definieren. Es geht darum, uns als Menschen zu begreifen, die ein biologisches Fundament haben, das in faszinierender Art und Weise in verschiedensten Zell- und Organstrukturen funktioniert, deren Endlichkeit wir schon erwähnt haben; dass wir Menschen sind, die gleichzeitig beseelt sind, also eine sehr individuelle, psychisch-spirituelle Komponente haben, die unser individuelles Sein noch mal besonders bestimmt und die Einzigartigkeit eines jeden Einzelnen und einer jeden Einzelnen noch mal präzisiert. Es geht darum, dass es im Hinblick auf die medizinische Versorgung eine Verbindung geben muss zwischen diesen beiden Komponenten, die eben nicht nur ein materieller Körper und ein psychischer Körper sind, sondern die mit der spirituellen Dimension auch eine energetische Erweiterung erfahren, die wir uns nur schwer vorstellen können, von denen es in der Philosophie, in der Theologie und in der Metaphysik natürlich ganz unterschiedliche Bilder gibt, die aber erkennbar auch Bestandteil eines jeden Individuums ist. Für viele ist das heutzutage eher verschüttet, weil sie den Zugang zur eigenen Spiritualität nur unzureichend im Laufe des eigenen Lebens entwickelt haben. Es gibt aber selbstverständlich eine große Gruppe von Menschen, die hier Sensibilitäten haben, die ansprechbar sind und die zu der Bewältigung einer bestimmten Problemsituation beitragen können. Im Kontext der Medizin geht es darum, diese Ressource und diese Kraft, die wir als Mensch haben, wirklich zu nutzen, um sie in den verschiedensten Kontexten – sei es zur Überwindung und Heilung einer Erkrankung, sei es auf den letzten Wegstrecken im eigenen Leben, dann auch wirklich zu mobilisieren. Dazu braucht es die Ansprache. Dazu braucht es ein Verständnis der umsorgenden Medizin, dass es diese Spiritualität als eine menschliche Grundlage gibt. Das ist in der naturwissenschaftlichen Medizin bisher unzureichend berücksichtigt. Deshalb setze ich mich mit vielen anderen erfahrenen Ärztinnen und Ärzten dafür ein, das hier noch stärker in den Fokus zu nehmen. Hier treffen sich natürlich auch unterschiedliche Berufsgruppen, denn diese Frage der spirituellen Ansprechbarkeit gilt natürlich nicht nur aus einer ärztlichen Perspektive, sondern sie gilt natürlich auch stark aus einer pflegerischen Perspektive, aus der Perspektive von Theologinnen und Theologen und aus der Perspektive von vielen Gesundheitsberufen, die sich um die Umsorgung eines Menschen kümmern und engagieren.
Frage: Wie kann das in Zukunft aussehen, wenn man Spiritual Care ernst nimmt?
Nagel: Eigentlich haben wir ja in der Entwicklung von Krankenhäusern, die sehr stark auf klösterliche Rahmenbedingungen Bezug genommen haben, im Mittelalter schon diese Verbindung zwischen dem Wissen um das Spirituelle im Leben und das Wissen um das Biologische im Leben. Je weniger man damals über die Biologie wusste, desto mehr hat man sich natürlich auf die metaphysischen Erklärungen des Daseins und auch des Schicksals bezogen. Das war ein starkes Tappen im Dunkeln. Heute haben wir eine ganz andere Situation. Wir haben ein wirklich eindrucksvolles Wissen, mit allen Einschränkungen und allen schwarzen Flecken auf der Landkarte der Biologie, aber doch ein eindrucksvolles Wissen über die Grundzusammenhänge des körperlichen Daseins. Wir haben vielfältige Erfahrungen gesammelt mit der Psyche und der seelischen Struktur von Menschen, gerade unter medizinischen Rahmenbedingungen. Mit diesem Fundament können wir natürlich noch einmal sehr viel klarer sehen: Was ist eigentlich unsere Spiritualität? Was ist unsere Beziehung über den eigenen Organismus, über die eigene Persönlichkeit hinaus – in die Welt, in unsere Umgebung, zu unseren Mitmenschen, zu den Kontexten, in denen wir leben und zum Kosmos insgesamt? Indem wir das wahrnehmen können, können wir diesen Bereich natürlich auch ganz anders ansprechen. Das heißt, indem ich auf Menschen zugehe, sie nach ihren Vorstellungen vom Dasein, nach ihrer Vorstellung gerade im Kontext des erwarteten Todes frage: Wie und in welcher Art und Weise stellen Sie sich denn vor, geht es weiter? Was sind die Bedürfnisse über das hinaus, was Sie als Medikament, als konkrete Umsorgung bekommen? Wo und in welcher Art und Weise könnten Sie noch unterstützt werden? Was fehlt Ihnen da? Indem man Menschen so anspricht, kann man natürlich tatsächlich einen Dialog zur spirituellen Verortung eines Menschen führen. Das kann im Kontext der Medizin eine äußerst hilfreiche, zusätzliche Ressource werden.
Frage: Gibt es dazu Zahlen? Weiß man, wie wichtig diese Ressource sein kann?
Nagel: Es ist spannend, dass Sie zuerst nach Zahlen fragen, weil das natürlich die naturwissenschaftliche Medizin immer als erstes fragt: Wie sehen die Zahlen aus? Wie sind die Statistiken? Gibt es eine klare statistische Ergebniskonstellation? Nein, das gibt es in diesem Zusammenhang nicht. Was es aber natürlich gibt, sind Beobachtungen, Beobachtungen von erfahrenen Medizinerinnen und Medizinern, von Geistlichen, die Menschen begleiten, von anderen Berufsgruppen und auch von Familienangehörigen, die darüber berichten, wie und in welcher Art und Weise zum Beispiel die Eingebundenheit unseres Daseins eine Ressource ist, mit der man neue, auch medizinische Ziele erreichen kann. Es gibt Studien dazu, wie Menschen, die in einer starken Verbindung zu ihrer eigenen Gemeinde operiert werden, sich schneller von dieser Operation erholen als Menschen, die stark isoliert sind. Das ist jetzt auch überhaupt nichts Überraschendes. Das ist komplementär zu vielen Untersuchungen, die Sie auch in Beobachtungen machen können. Es gibt reichlich Datenmaterial im Hinblick auf diese Aspekte, ohne dass ich jetzt quantifizieren könnte: Brauchen wir dazu eine bestimmte Anzahl von Betten innerhalb eines Krankenhauses? Brauchen wir also eine wie auch immer geartete Anzahl von Mitarbeitenden mit verschiedenen Professionen etc.? Das ist im Moment so nicht möglich. Das, worum es jetzt bei einem solchen Projekt wie dem SpECi-Projekt geht, ist auf diese Notwendigkeiten und Möglichkeiten hinzuweisen. Wenn es darum geht, dass wir vier oder fünf Lebensmonate bei einem lebensbedrohlichen Erkrankungsbild hinzufügen, zum Beispiel durch ein Medikament, dann würden wir ein solches Medikament als gerechtfertigt ansehen, selbst wenn es sehr kostenintensiv ist, es in der medizinischen Behandlung auch einzusetzen. Wenn wir wissen, dass die Eingebundenheit eines Menschen im Hinblick auf sein soziales Umfeld eine positive Überlebenswahrscheinlichkeit deutlich steigen lässt, dann nutzen wir diese Ressource gar nicht. Wir haben also an der Stelle bisher einen blinden Fleck. Und ich glaube, wir tun gut daran, hier mehr zu investieren im Sinne davon, neue Wege zu gehen und aus dieser, vor allen Dingen auch zeitlichen Investition, dann schlusszufolgern, wie und in welcher Art und Weise das zu einer Verbesserung der Betreuung von Patientinnen und Patienten beiträgt.