Caritas heißt Liebe
Die nämlich habe es in der Antike nicht gegeben, so Stiegemann. Hinwendung oder gar Mitleid mit den Armen und Schwachen sei bei den hedonistischen Römern tabu gewesen und habe sich erst durch die Christen etabliert. Ihre Geschichte setze sich bis heute, bis zu den Hilfen für Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisengebieten Afrikas und des Nahen Ostens, fort.
Kunst als Seismograph kultureller Entwicklungen
Eine kulturhistorische Rückschau soll die pünktlich zum Liborifest eröffnete große Ausstellung im Paderborner Diözesanmuseum bieten. Aber das ist nicht der alleinige Schwerpunkt. Faszinierend sei für ihn auch die Entdeckung gewesen, wie die Kunst "als Seismograph menschlicher Befindlichkeiten und geistig-kultureller Entwicklungen" das Thema durch die Jahrhunderte immer wieder aufgegriffen habe, sagt Stiegemann. Er nennt Künstler wie Raffael, Lucas Cranach d. Ä., Peter Paul Rubens, auch Ernst Ludwig Kirchner, Pablo Picasso und Käthe Kollwitz.
„Warum konnte sich das Christentum in den ersten 300 Jahren im gesamten Römischen Reich ausbreiten? Die Antwort darauf ist die Nächstenliebe“
Und so führt die "Caritas"-Ausstellung den Besucher an zwei Strängen - einem historischen und einem künstlerischen - durch das Thema. Gleich am Eingang ein Highlight: eine der ältesten Abschriften des Briefes von Paulus an die Korinther mit dem "Hohelied der Liebe". Entstanden ist sie um das Jahr 200. Der Text über die Liebe, die alles erträgt, glaubt, hofft, allem standhält und niemals aufhört, ist gleichsam Inbegriff der gesamten Schau. Caritas heißt Liebe.
Daneben finden sich Darstellungen der wundersamen Brotvermehrung auf liturgischen Gefäßen aus dem 6. Jahrhundert sowie der Taufe Christi auf römischen Sarkophagen vom Ende des 3. Jahrhunderts. Dann wird gezeigt, wie sich Caritas institutionalisierte, wie Klöster und Armenhäuser gegründet worden, wie Bruderschaften entstanden und Menschen ihr gesamtes Hab und Gut weggaben, um anderen zu helfen. Künstlerisch findet sich dies zu jener Zeit etwa in bildlichen Darstellungen der "Sieben Werke der Barmherzigkeit". Eine der ältesten, um 1140 entstanden, ist in Paderborn zu sehen: ein elfenbeinerner und mit Edelsteinen verzierter Einband des Psalters der Königin Melisende aus der British Library.
Eine Abteilung ist der Zeit der Aufklärung im 16. Jahrhundert gewidmet. "Man suchte, das Wirken Gottes in der Ordnung der Welt zu erkennen, diese in ihren Gesetzen sichtbar zu machen und zu erklären", so Stiegemann. Neben die Klöster traten Hospitäler als bürgerliche Einrichtungen zur Krankenpflege sowie andere frühstaatliche Versorgungseinrichtungen. Hier zeigt die Schau Abbildungen von Armenhäusern, Beginen bei der Waschung von Toten. Als einen der Höhepunkte präsentiert das Museum eine Altartafel von Raffael von 1507, eine Leihgabe der Vatikanischen Museen.
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Mit der Reformation entfernt sich die Caritas immer weiter von der Religion und wird als staatliche Aufgabe begriffen. Klöster werden geschlossen und zu Heilanstalten für geistig Kranke oder zu Heimen umfunktioniert. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert bringt Massenelend, ebenso der Erste Weltkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts. Davon vermitteln schwarz dominierte Bilder von Käthe Kollwitz einen Eindruck. Caritasverbände und Diakonie gründen sich. Für die Nazi-Zeit stehen Namenslisten mit vergasten Kindern aus Heilanstalten - die Perversion von Caritas.
Wie eine Ikone
Die Schau entlässt den Besucher mit ikonenhaft anmutenden riesigen Fotos der New Yorker Künstlerin Vanessa Beecroft. Auf diesen ist sie selbst in Madonnen-Pose mit sudanesischen Babys abgebildet - eine Anfrage an den reichen Westen zur Hilfe in Afrika.