Herrgottskinder – Die Elternkolumne

Vergeben und Vergessen: Was wir von unseren Kindern lernen können

Veröffentlicht am 20.01.2025 um 00:01 Uhr – Von Melina Schütz – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", beten wir im Vaterunser. Das ist leicht gesagt. Oft tragen wir Erwachsene den Ballast vergangener Enttäuschungen mit uns herum, unfähig zu verzeihen. Kinder zeigen uns, wie es anders geht, beobachtet Melina Schütz.

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"Du bist nicht mehr mein Freund", höre ich einen Jungen zu meinem Sohn sagen. Autsch, das trifft. Mich allerdings mehr als meinen Siebenjährigen. Er kontert gelassen: "Dann bist du nicht zu meinem Geburtstag eingeladen." Wenige Minuten später ist der Streit dann aber vergessen. Die Lossagung auch. Sie spielen wieder, als wäre nichts gewesen, als hätte es diesen Moment geballter Emotion nie gegeben. Kinder können das. Sie tragen keinen Groll, sind Könige im Vergeben und Vergessen.

Ganz so glimpflich läuft es nicht immer ab. Je nach Gemütsverfassung gab es auch schon Tränen, Wut oder beides zusammen. Weil die Freundschaft aufgekündigt wurde oder weil man eben doch gerne zu dem Geburtstag des Freundes möchte. Geballte Gefühle und ein Funken Angst, dass die Freundschaft für immer verloren ist.

Auf dem Nachhauseweg spreche ich meinen Sohn auf die Situation an. Wir sprechen darüber, wie mächtig Sprache ist und wie weh Worte tun können. Er weiß das. Er weiß, dass man Sätze wie "Du bist nicht mehr mein Freund" nicht verwenden soll, um den eigenen Willen durchzusetzen oder um jemanden absichtlich zu verletzten. Er weiß es vor allem, weil er es ja schon am eigenen Leib erfahren hat. Ich sehe ihm an, dass er versteht, was ich sage. Und dennoch ist es nicht das erste Mal, dass wir dieses Gespräch führen und vermutlich auch nicht das letzte Mal. Mir scheint, "Du bist nicht mehr mein Freund" ist Ausdruck potenzierter kindlicher Wut. Ein Instrument, allen Frust rauszulassen, sich zu befreien.

Platzen vor Wut

Und wenn ich ehrlich bin, beneide ich meinen Sohn ein wenig. Wie oft wünschte ich mir, mal alle meine Gefühle rauslassen zu können oder sie gar jemandem an den Kopf zu knallen. Bloß raus aus meinem Körper. Der Wunsch zu Platzen vor Wut und das nicht bloß im übertragenden Sinne. Stattdessen haben wir gelernt, uns zu mäßigen, unsere Gefühle in kontrollierter Form zu äußern. Oft mit wenig zufriedenstellendem Ergebnis. Denn vielleicht sind wir niemandem auf den Schlips getreten, haben pädagogisch korrekte "Ich-Botschaften" gesendet, aber unsere Gefühle, die konnten wir nicht rauslassen.

Und vielleicht ist das der Grund, warum es uns Erwachsenen so schwerfällt zu vergeben und zu vergessen. Wir tragen unsere Gefühle mit uns. Unverarbeitete Emotionen, die soziale Narben hinterlassen. Narben, die dann die Geschichten vergangener Enttäuschungen erzählen und die wir nicht abstreifen können, wie die Kinder, die nach einem Streit sofort zurück ins Spiel finden, als sei nichts geschehen.

Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Kinder zeigen uns, wie es geht: weniger Stolz, mehr Mut. Loslassen. Es ist eine Fähigkeit, die wir Erwachsenen verloren haben – und die wir uns zurückwünschen. Wenn wir beten "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", dann geht es vielleicht genau darum: darum, den Mut zu finden, sich nicht von alten Narben bestimmen zu lassen. Am Ende zählen nicht die Konflikte, sondern die Beziehungen, die sie überdauern. Kinder verstehen das intuitiv. Sie sind unsere Lehrer in der Kunst der Versöhnung – und im Mut, neu zu beginnen.

Von Melina Schütz