Wenn Heilige fallen, fallen sie tief

Immer neue Vorwürfe gegen den Armenpriester Abbé Pierre

Veröffentlicht am 18.01.2025 um 12:00 Uhr – Von Alexander Brüggemann (KNA) – Lesedauer: 

Paris ‐ Lange war der als "Vater der Obdachlosen" bekannte Armenpriester Abbé Piere so etwas wie eine Nationalikone in Frankreich. Doch zuletzt gab es immer mehr Berichte über sexuelle Verfehlungen – und der Strom reißt nicht ab.

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Mutter Teresa hat lebenslang maskiert Banken überfallen und damit Millionen erbeutet. Tatsächlich? Natürlich nicht. Aber ungefähr so hoch ist die Fallhöhe, die Abbé Pierre in den vergangenen Monaten genommen hat. Immer neue Berichte über sexuelle Verfehlungen des französischen Armenpriesters (1912-2007) türmen sich auf. Selbst im zehnten Lebensjahrzehnt soll er noch aktiv gewesen sein.

Das Spektrum der einstigen Nationalikone Frankreichs reichte offenbar von erwachsenen Frauen bis zu kleinen Jungen – und sogar bis zu Familienangehörigen; von Anzüglichkeiten über unsittliche Berührungen bis hin zu Vergewaltigung. Der Zeitung "Le Parisien" sagte der Generalbeauftragte von Emmaus France, Tarek Daher, der jüngste Bericht zeichne "das Bild eines bedrohlichen Raubtiers".

Über Jahrzehnte war der Mann mit der Baskenmütze, mit Fusselbart und Segelohren in Umfragen beliebtester Franzose. Für den linken Flügel des französischen Katholizismus war Abbé Pierre "die" Identifikationsfigur. Henri Antoine Grouès, so sein bürgerlicher Name, hatte 1949 die Emmaus-Gemeinschaft gegründet. Mit Hilfe zur Selbsthilfe setzt sie sich heute in knapp 40 Ländern weltweit gegen Armut und Obdachlosigkeit ein.

Widerständler und Ehrenlegionär

Der "Vater der Obdachlosen" war ihre Ikone und ihr Aushängeschild. Der Name Abbé Pierre, unter dem er bekannt wurde, stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als er in der Résistance Widerstand gegen die deutschen Besatzer leistete. Er war Abgeordneter der Nationalversammlung, trug das Großkreuz der Ehrenlegion. Er wurde von Patricia Kaas besungen ("L'Abbé Caillou", 2003), von der Banque de France mit einer 2-Euro-Münze geehrt (2012).

Abbé Pierre
Bild: ©picture alliance / abaca | Gorassini Giancarlo/ABACA

Der "Vater der Obdachlosen" war ihre Ikone und ihr Aushängeschild. Der Name Abbé Pierre, unter dem er bekannt wurde, stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als er in der Résistance Widerstand gegen die deutschen Besatzer leistete.

2024 dann der tiefe Fall. Erst wurden einzelne, dann immer mehr Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe auf Frauen im Laufe seines langen Lebens bekannt; auch auf minderjährige. Die Reaktionen auf die Schockwellen waren heftig: Emmaus-Einrichtungen schlossen symbolisch aus Solidarität mit den Opfern; die Abbé-Pierre-Stiftung kündigte eine Namensänderung und weitere Nachforschungen und Berichte an. Zahlreiche Kommunen mit Abbé-Pierre-Straßen, -Schulen oder -Parks leiteten Umbenennungen ein.

Frankreichs Bischofskonferenz erklärte, ihr Archivmaterial zu Abbé Pierre Wissenschaftlern und Journalisten umgehend zur Verfügung zu stellen. Ohne diese Freigabe wären die Dokumente fristgemäß erst 2082 einsehbar gewesen. Selbst der Papst reagierte. Franziskus nannte Abbé Pierre öffentlich einen "schlimmen Sünder" – trotz des Guten, das er getan habe. Es sei gut, dass solche Fälle aufgedeckt würden.

Kirchenleitung früh informiert

Für die Kirchenleitung ist die Causa ein neuerlicher Tiefpunkt. Nicht nur, weil einmal mehr ein renommierter, charismatischer Kirchenmann sein Ansehen nutzte, um Schutzbefohlene und/oder Verehrer zu missbrauchen – was immer mehr auch kirchliche Strukturen infrage stellt. Im Laufe der Veröffentlichungen wurde auch deutlich, dass kirchliche Stellen schon früh über Straftaten des bekannten Sozialaktivisten und Geistlichen informiert waren.

Bild: ©picture alliance/ASSOCIATED PRESS/Andrew Medichini

Frankreichs Bischofskonferenz-Vorsitzender, Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort, musste einräumen, dass bereits in den 50er Jahren "zumindest einige Bischöfe" von sexuellen Verfehlungen Abbé Pierres gewusst hätten.

Frankreichs Bischofskonferenz-Vorsitzender, Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort, musste einräumen, dass bereits in den 50er Jahren "zumindest einige Bischöfe" von sexuellen Verfehlungen Abbé Pierres gewusst hätten. Zwar ordnete man damals – nach Belästigungen von Frauen bei einem USA-Aufenthalt Maßnahmen an, darunter eine psychiatrische Behandlung in der Schweiz 1957. All das, so de Moulins-Beaufort, sei aber vertraulich geschehen und müsse im Nachhinein als unzureichend bewertet werden – zumal es in den Jahren danach in Kanada zu neuerlichen polizeilichen Untersuchungen gegen den Armenpriester kam.

"Besser, nicht von ihm zu reden"

Vom Pariser Erzbischof Maurice Feltin ist ein Schriftstück überliefert, in dem er 1958 einem Minister von einer Ehrung Abbé Pierres abriet. Es sei wohl "besser, nicht von diesem Abbé zu reden". Da scheint auch in Rom der Kurs gewesen zu sein. Laut der Zeitung "Ouest France" sagte Papst Franziskus auf die Frage, wann der Vatikan von Anschuldigungen gegen den Geistlichen erfahren habe, er wisse das nicht mit Gewissheit. Es sei wohl nach dem Tod von Abbé Pierre 2007 gewesen, aber vor Beginn seiner Amtszeit 2013.

Fehlende Transparenz bezahlt die Kirche heute mit enormem Vertrauensverlust. Und mit Häme, die sie ertragen muss. In einer früheren Kirche in Toulouse wurde vorübergehend eine Statue ausgestellt, das den einst beliebtesten Franzosen mit erigiertem Glied zeigt.

Von Alexander Brüggemann (KNA)