Bischof Meier: Ohne Religion geht gar nichts in Nigeria
Der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bertram Meier (64), hat in Nigeria zahlreiche Menschen getroffen, die sich für den interreligiösen Dialog einsetzen. Häufig seien Frauen die Pionierinnen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) schildert er seine Eindrücke.
Frage: Sie waren eine Woche in Nigeria unterwegs. Mit welchen Eindrücken kehren Sie zurück?
Meier: Ich bin mit einer Vielzahl von Erlebnissen, Begegnungen und Gesprächen erfüllt, auch von der Lebendigkeit der katholischen Kirche und der Christen im Land. Überall sind riesige Plakate für Gottesdienstwerbungen, vor allem von Freikirchen, aber auch von anderen kirchlichen Gemeinschaften. Ein Nigerianer gehört normalerweise einer religiösen Gemeinschaft an. Religion spielt in Nigeria eine ganz große Rolle, auch wenn der Staat anstrebt, säkular zu sein. Ohne Religion geht eigentlich gar nichts. Das beeindruckt mich.
Frage: Gibt es eine Begegnung, die sie besonders beeindruckt hat?
Meier: Der Erzbischof von Jos, Matthew Ishaya Audu, hat mich in das dortige Priesterseminar eingeladen. Als wir in die Seminarkirche gingen, traute ich meinen Augen nicht. Es gab dort über 300 Seminaristen. Die jungen Männer, die sich für das Priesteramt interessieren und sich darauf vorbereiten, waren für mich tief beeindruckend. In einem Land, von dem man nicht weiß, wohin es sich künftig entwickeln wird, auf katholisches Priestertum - das ist nicht immer risikolos - zu setzen, hat mich tief bewegt.
Frage: Die Stadt Jos im sogenannten Middle Belt hat mehrfach schwere Ausschreitungen mit Hunderten Toten erlebt. Zugleich setzen sich zahlreiche Initiativen für den Dialog zwischen Christen und Muslimen ein. Wie haben Sie diesen erlebt?
Meier: Das ist nicht so, wie wir das in Deutschland oft machen, also an Debattiertischen. Menschen in Nigeria wollen den Dialog des Lebens voranbringen. Das heißt: Sie machen etwas miteinander, lernen einander kennen und gehen soziale Projekte an. Frauen sind übrigens an vorderster Front dabei, oft Pionierinnen, und bringen Menschen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften zusammen. Auch das hat mich tief beeindruckt.
Frage: Das heißt: Hier in Deutschland können wir auch von Nigeria lernen?
Meier: Es gibt verschiedene Stufen des interreligiösen Dialogs. Dieser ist nicht so sehr ein theologischer Dialog. Stattdessen erkennen Menschen: Wir haben nur einen Gott, der uns als Söhne und Töchter geschaffen hat. Deshalb dürfen wir uns nicht die Köpfe einschlagen, sondern müssen miteinander versuchen, das Erbe der Schöpfung auszubauen. Wir können aus Nigeria dieses Miteinander lernen. Im Land gibt es auch große Konflikte und Spannungen. Wir können lernen, dass wir nie den Gesprächsfaden abreißen lassen. Das gilt vor allem im Praktischen. Interreligiöser Dialog betrifft nicht nur unser Hirn, sondern hat mit unserem Herzen zu tun.
Frage: Gleichwohl steht der interreligiöse Dialog immer wieder vor großen Herausforderungen. Im Middle Belt gibt es seit Jahrzehnten Konflikte zwischen Farmern und Viehhirten, die religiös gefärbt werden. Viehhirten sind meist Muslime und Fulani. Mitunter ist sogar die Rede von Fulani-Terroristen.
Meier: Ich bin bei diesen Begriffen äußerst vorsichtig, auch im Übrigen, wenn wir von Christenverfolgung sprechen. Wir sollten uns vor Scharfmacherei dringend hüten. Religion wird sehr schnell instrumentalisiert. Die eigentlichen Motivationen können tiefer liegen. Weil Religion leichter fassbar ist, werden Entwicklungen auf religiöse Spannungen zurückgeführt. Dem ist aber nicht so. Ich vergleiche das mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa, der mit Religionsfragen anfing. Aber er hatte ganz andere Hintergründe und Interessen.
Frage: Worum geht es dann in Nigeria?
Meier: Es geht um Radikalisierung, einen Islamischen Staat, ein Kalifat. Das ist auf keinen Fall etwas Religiöses. Boko Haram schadet ja nicht nur Christen, sondern geht gegen eigene Leute, gegen Muslime vor. Dazu kommen ökonomische und finanzielle Fragen. Die ganze Gemengelage ist so komplex, dass wir uns vor holzschnittartigen Analysen hüten müssen. Wir sollten auf den Brückenbau von unten setzen - und den gibt es zahlreich.
Frage: Verschiedenen Schätzungen zufolge leben knapp 50 Prozent, etwa 230 Millionen Einwohner, unterhalb der Armutsgrenze. Die Inflation liegt bei rund 34 Prozent. Kann man trotzdem hoffnungsfroh bleiben?
Meier: Möglicherweise haben 20 Millionen Kinder keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Was heißt das für eine Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von 17,9 Jahren? Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60 Prozent. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn Frust, Orientierungslosigkeit sowie die Tendenz, sich zu radikalisieren, steigen. Trotzdem bin ich zuversichtlich: Ich habe viel innere Freude erlebt, wie Menschen Dinge in die Hand nehmen und sich religiös engagieren.