Ehrenamtliche Telefonseelsorger lernen die Not der Anrufer auszuhalten
Bei seiner ersten Schicht am Seelsorgetelefon wollte Hans auf Nummer sicher gehen. Neben seinen Hörer hatte er sich einen Spickzettel gelegt. Darauf: Ein Schema für verschiedene Gesprächssituationen und wie er reagieren kann. Doch die Telefonate liefen auch ohne einen einzigen Blick darauf gut. Gut, das heißt für Hans: Er bekommt einen Zugang zum Menschen in der Leitung und dringt bis unter die Oberfläche vor. Hans ist nicht sein richtiger Name, auch am Telefon stellt er sich nicht vor. Seit zwei Jahren ist er bei der Telefonseelsorge in Bielefeld – ehrenamtlich und anonym.
Als sein Ruhestand näher rückte, ließ er sich beraten, was für ein Ehrenamt zu ihm passen könnte. Er suchte irgendwas mit Kommunikation. Nach einem kurzen Gespräch mit der Freiwilligenagentur der Stadt Bielefeld stand fest, dass er sich zum Telefonseelsorger ausbilden lassen wollte. “Eine bessere Form der persönlichen Weiterentwicklung kann ich mir gar nicht vorstellen.” Er spricht schnell und deutlich, wenn er von seinem Ehrenamt erzählt. Am Telefon trifft er auf die verschiedensten Menschen mit all ihren “Schrullen und Macken”. Man müsse für diese Arbeit Menschen wirklich mögen, erzählt er und lacht.

Unter der 0800 1110111 oder der 0800 1110222 erreicht man die Telefonseelsorge in Deutschland.
Die Telefonseelsorge wird in Deutschland größtenteils von der katholischen und evangelischen Kirche getragen. An über 100 Standorten befinden sich die Büros der Seelsorger. Hauptamtlich arbeiten dort aber nur wenige. "Ohne die Ehrenamtlichen könnten wir alle zu machen", sagt Angela Kessler-Weinrich, Leiterin des ökumenischen Standorts Bielefeld. Die 7.700 ehrenamtlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen in Deutschland arbeiten in einem Schichtsystem. Zwölf Stunden pro Monat am Telefon soll jeder von ihnen mindestens übernehmen. Auch am Nachtdienst sollen sich alle beteiligen. Nur so kann das Alleinstellungsmerkmal der Telefonseelsorge aufrechterhalten werden: die Erreichbarkeit zu jeder Stunde und an jedem Tag des Jahres. Das ist jedenfalls der Anspruch.
Rund eine Million Anrufe mit einer Durchschnittsdauer von 20 bis 25 Minuten verzeichnete die Telefonseelsorge 2023 bundesweit. Der Bedarf an Gesprächen ist aber deutlich höher. Besonders in den Abendstunden sind die Leitungen völlig überlastet. Das Risiko: Wer beim ersten Mal nicht durchkommt, versucht es kein zweites Mal.
Deutschlandweit wird deshalb nach Möglichkeiten gesucht, die Erreichbarkeit zu verbessern. Der Dachverband der Telefonseelsorge in Deutschland sprach sich in einer Pressemitteilung im Dezember für eine langfristige, staatliche Finanzierung aus. So sollen digitale Angebote wie Chat- und Mailseelsorge ausgebaut werden. In Bielefeld wird jetzt schon versucht, die Telefonate durch eine bessere Gesprächsführung zu verkürzen. Mehr Ehrenamtliche könnten ebenfalls die Kapazitäten erhöhen.
Für so ein Ehrenamt benötig man Zeit, Herz und Kopf
Doch mit wem sprechen die, die sich in einer Krise an die Telefonseelsorge wenden? Von den 95 Ehrenamtlichen in Bielefeld ist ein Großteil kurz vor oder gerade am Anfang des Ruhestands. "Man sollte in einer Lebenssituation sein, die einen selbst nicht zu sehr herausfordert. Herz und Kopf sollen frei für die Anrufe sein", sagt Kessler-Weinrich. Verlässlichkeit im Dienst ist besonders wichtig, um die 24/7-Bereitschaft zu gewährleisten. Die meisten Ehrenamtlichen wie auch die meisten Anrufenden sind weiblich. Die beruflichen Hintergründe seien dagegen vollkommen unterschiedlich, berichtet die Bielefelder Leiterin. Was die Gruppe aber verbindet: Sie alle wollen ein sinnhaftes Ehrenamt und dabei auch etwas über sich selbst lernen.
Die "professionellen Zuhörer", wie Kessler-Weinrich die Seelsorgenden beschreibt, bereiten sich in einem Zeitraum von zwei Jahren auf ihren Dienst am Hörer vor. "Das ist aufwendig", gibt Hans zu. Begonnen hat für ihn der lange Weg bis an den Hörer mit einem Bewerbungsgespräch und einem Informationsnachmittag. “Da wurde mir schon etwas mulmig zu Mute und ich habe mich gefragt, ob das wirklich was für mich ist”, sagt er und ließ sich dennoch auf den langwierigen Ausbildungsprozess ein.

Angela Kessler-Weinrich ist Leiterin der Telefonseelsorge in Bielefeld.
Einmal jährlich startet für die knapp 1.000 Interessierten deutschlandweit die Ausbildung. Je nach Standort dauert sie zwischen 9 Monaten und zwei Jahren. 120 Stunden Ausbildungszeit und die genauen Inhalte sind dabei vom Dachverband festgelegt. In Bielefeld trifft man sich im ersten Jahr 2,5 Stunden jede Woche, im zweiten Jahr dann noch alle zwei Wochen.
Der erste Themenbereich der Ausbildung ist die Biographiearbeit. Dabei lernen die Ehrenamtlichen, "wie sich das überhaupt anfühlt, wenn ich etwas aus meinem Leben erzähle", sagt Kessler-Weinrich. Im nächsten Schritt lernen sie, wie sie erst den Anrufenden aktiv zuhören und später ihre Gefühle zu den Erzählungen äußern. In dieser Einheit fällt der Leiterin immer wieder auf, wie schwer es vielen fällt, genau zu beschreiben, wie sie sich gerade fühlen. "Der Austausch in der Ausbildung schweißt die Gruppe richtig zusammen", erzählt die Leiterin.
Ausgestattet mit den Basics beginnen die Trockenübungen. In Rollenspielen geht es um die Themen, die am Telefon häufig eine Rolle spielen: Einsamkeit, Trauer, Partnerschaftsprobleme. Nach einem halben Jahr nähern sich die Ehrenamtlichen dann erstmals dem Hörer. Sie begleiten erst andere Telefonseelsorger bei ihrer Arbeit. Nach einem Jahr telefonieren sie dann unter Aufsicht selbst. Nebenbei gibt es Seminare zu psychischen Erkrankungen, Suizidalität, Trauer und Schuld, aber auch zu Gesprächsführung.
„Es geht darum, für eine kurze Zeit einfach da zu sein und die Not auszuhalten.“
Für Kessler-Weinrich ist es am wichtigsten, dass die Ehrenamtlichen in der Ausbildung lernen, wie sie eine Haltung der Wertschätzung einnehmen. "Es geht darum, für eine kurze Zeit einfach da zu sein und die Not auszuhalten." Für die evangelische Pfarrerin zeigt sich darin das christliche Menschenbild. "Die Aufgabe ist es, jeden Anrufer als Menschen mit Würde anzusehen und nicht gleich zu bewerten.”
Genau damit hat Hans immer wieder Probleme. Vor seinem Ruhestand hat er beruflich Manager beraten. Lösungen zu suchen war geradezu sein Handwerk. Theoretisch weiß er, dass es seine Aufgabe als Telefonseelsorger ist, den Anrufenden beizustehenden und auf deren Emotionen zu reagieren. Im Alltag fällt er manchmal in seine alte Profession zurück. Er erzählt von einem Beispiel. Jemand ruft an und berichtet, dass er gerade eine Krebsdiagnose bekommen hat. In seinem Kopf beginnt er schon nach Lösungsvorschlägen zu suchen. Dann muss er sich selbst bremsen und sich erinnern: “Unser Auftrag ist es, den Menschen beizustehen und keine Lösung anzustreben." Denn ein Telefonat könne keine Krebsdiagnose aufwiegen.
In herausfordernden Momenten hilft es Hans, dass er auch nach seiner Ausbildung nicht allein gelassen wird. Alle drei Wochen treffen sich mehrere Telefonseelsorger zusammen mit der Leitung für eine Supervision. “Das ist auch nötig”, gibt er zu. In dieser kleinen Runde sprechen die Seelsorger über herausfordernde Gespräche, die sie auch im Nachhinein noch beschäftigen. Hans kann aus diesen Runden sehr viel mitnehmen. “Ich bekomme dort viele Anregungen, wenn ich höre, wie andere mit schwierigen Situationen umgehen.”
So lange will Hans noch Telefonseelsorger bleiben
Der 64-Jährige hat mittlerweile eine eigene Strategie für belastende Gespräche gefunden: Meditation. Dabei setzt er sich hin und lässt alle Gedanken und Gefühle in sein Bewusstsein treten. Er schaut alles nach und nach an, hat dann aber gelernt, die Gedanken und Gefühle auch wieder gehenzulassen. Genau das wendet er in der Telefonseelsorge an. "Ich gehe rein ins Gespräch und wenn mein Gegenüber dann auflegt, lasse ich das Gespräch wieder gehen", erklärt Hans.
Sein Ehrenamt hat ihn schon vieles gelehrt, denn er spricht regelmäßig mit Leuten in den verschiedensten Lebenssituationen. "Wahnsinnig perspektiverweiternd" findet er das. Diese Erfahrungen trägt er auch in sein Privatleben. Er merke nun schneller, wenn Gespräche unstimmig werden und wenn man eigentlich nur noch aneinander vorbeiredet, sagt er. "Ich bin sehr viel sensibler geworden und wacher in der Kommunikation mit anderen." Er will sein Ehrenamt auf jeden Fall noch länger ausüben. "Wenn ich geistig fit bleibe und die mich nicht rausschmeißen, dann bleibe ich bis zum Lebensende."