Zwischen neuen Aufbrüchen und der Anfälligkeit für Missbrauch

Neue Geistliche Gemeinschaften sind konservativ wie modern

Veröffentlicht am 01.03.2025 um 00:01 Uhr – Von Christoph Paul Hartmann – Lesedauer: 7 MINUTEN

Bonn ‐ Seit etwa 100 Jahren gibt es die Neuen Geistlichen Gemeinschaften in der katholischen Kirche. Den einen gelten sie als Hoffnung der Kirche für die Zukunft, den anderen als suspekte Elitegruppen. Die Geschichte gibt beiden Seiten Recht.

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Sektenartig und missbrauchsanfällig oder besonders fromm und die Zukunft des Glaubens? Über Neue Geistliche Gemeinschaften (NGG) denken viele Menschen sehr unterschiedlich. Die 100 Jahre seit Aufkommen der "Movimenti" (Bewegungen) haben solche Zuschreibungen mal bestätigt, mal relativiert. Klar wird: Die Bewegungen bleiben eine Herausforderung.

In der Kirchengeschichte gab es stets Erneuerungen oder Reformen, die von ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten vorangetrieben wurden: Zwischen Franz von Assisi und Martin Luther waren ganz unterschiedliche Typen dabei. Einen großen Aufbruch gab es vor etwa 100 Jahren: Die Liturgische Bewegung wollte die Liturgie verändern, die Bibelbewegung die Heilige Schrift neu entdecken. Daneben waren einzelne Menschen auf der Suche nach der Bedeutung des Glaubens in der Moderne, scharten Gleichgesinnte um sich. Die neu gegründeten Gemeinschaften und Bewegungen wuchsen.

Die Gründer dieser Bewegungen einte vor allem eins: Sie konnten Menschen für sich und eine neue Form des Glaubens begeistern. In manchen Fällen waren das Geistliche, etwa bei der Schönstattbewegung durch den Pallotinerpater Josef Kentenich 1914 oder bei Comunione e Liberazione durch den Priester Luigi Giussani 1954. In anderen waren es dezidiert Laien, so beispielsweise bei der Fokolar-Bewegung durch die Lehrerin Chiara Lubich 1943, beim Neokatechumenalen Weg vor allem durch den Maler Kiko Argüello 1964 oder bei Sant'Egidio durch den Historiker Andrea Riccardi 1968. Im Laufe der Jahre stieg das Bewusstsein der Kirche für die Laien, nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) bewertete sie explizit als Mitträger des missionarischen Gedankens: "Das Apostolat der Laien ist Teilnahme an der Heilssendung der Kirche selbst. Zu diesem Apostolat werden alle vom Herrn selbst durch Taufe und Firmung bestellt." (Lumen Gentium 33) So entstanden mit den Jahren aus ganz unterschiedlichen Ecken der katholischen Welt, getragen von verschiedenen Menschen, zahlreiche Gemeinschaften. Die Bandbreite ist groß: In manchen Gemeinschaften sind nur Laien Mitglieder, in anderen auch Geistliche; von sehr wenig Gemeinschaftsleben, das etwa beim Opus Dei so weit geht, dass es sich selbst nicht als Gemeinschaft bezeichnet, bis zu klassischen Klöstern wie bei den Schwestern und Brüdern von Bethlehem ist alles dabei.

Alte Riten im neuen Gewand

Beinahe alle dieser Gemeinschaften eint: "In Sachen Glaubenspraxis und Glaubenslehre sind sie eher traditionell, die Ausdrucksformen jedoch modern", sagt Pater Johannes Maria Poblotzki. Er ist Präsident der Gemeinschaft der Seligpreisungen – selbst eine NGG – und hat zum Charisma dieser Gemeinschaften promoviert. Er nennt als Beispiel die eucharistische Anbetung: "Sie hat in der Kirche eine lange Tradition. In einigen Bewegungen wird sie nun aktualisiert und mit einem spontanen Gebet und einer Meditation an Stelle üblich verwendeter Litaneien ergänzt." Dazu passt, dass nicht wenige Gemeinschaften ein charismatisches Moment haben, das sie mit der Frömmigkeit vieler Freikirchen verbindet. Gefühlsbetonte Musik sowie eine affirmative und emphatische Ansprache des Einzelnen, aber auch der ganzen Gruppe gehören ebenso dazu.

Darüber hinaus vereint der Gemeinschaftsgedanke die meisten Bewegungen, in denen manche Mitglieder zölibatär leben oder sogar Geistliche sind, andere dagegen Familien haben. "Die Gemeinschaften, die zusammenleben, bilden den Kern", erklärt Ursula Schmitt, die Co-Verantwortliche der Fokolar-Bewegung für den deutschsprachigen Raum. "Daneben gibt es dann Menschen, die sich lockerer oder fester an die Gemeinschaft binden." In den Zentren kommen etwa die Fokolare regelmäßig zusammen, feiern Gottesdienst, beten oder meditieren. "Bei uns steht die Erfahrung mit dem gelebten Wort Gottes im Vordergrund. Wir tauschen Glaubenserfahrungen im Alltag aus", sagt Schmitt.

Dazu übernehmen die Engagierten verschiedene Aufgaben, das nimmt nicht selten viel Zeit in Anspruch. "Man muss bereit sein, einen Teil der legitimen Freizeit für das Engagement zu investieren", sagt Poblotzki. Da fällt die richtige Balance manchmal schwer. "Das Familienleben kommt schnell zu kurz. Es braucht eine genaue Absprache mit jedem Mitglied." Neben den alltäglichen Diensten haben viele Gemeinschaften auch einen missionarischen Anspruch: Sich auf die Straße stellen und Menschen ansprechen, mit Liedern oder kleinen Theaterstücken für Aufmerksamkeit sorgen. Auch hier tritt wieder die Verbindung von Alt und Neu hervor: Die Mittel mögen modern sein, aber mit der ostentativen Mission, der Dualität aus Zölibat auf der einen und Heirat und Familie auf der anderen Seite prägt die meisten Gemeinschaften ein konservatives Weltbild, das viele andere Lebensmodelle ausschließt. "Die Frage, ob Homosexuelle bei uns vollwertige Mitglieder sein können, stellt sich für uns auch", sagt beispielsweise Schmitt. Für sie ist die Antwort klar: Ja. Sie weiß aber auch: "Das Thema ist komplex, wir sind eine weltweite Bewegung mit unterschiedlichen kulturellen Zugängen". Hinzu kommt: "Viele scheinbar ewige Wahrheiten wurden in den vergangenen Jahren hinterfragt. Da kommt nicht jeder gleich schnell mit." Für andere Gemeinschaften stellt sich die Frage etwa nach queeren Mitgliedern nicht – weil es sie nicht gibt.

Bild: ©picture alliance/M.i.S./Bernd Feil

Menschen suchen in den Gemeinschaften auch nach religiöser Orientierung.

Die Mitglieder der Movimenti verbinden andere Faktoren: "Geistliche Gemeinschaften ziehen Menschen an, die intensive religiöse Bedürfnisse haben und diese mit anderen gemeinschaftlich leben wollen. Geistliche Gemeinschaften sind auch interessant, wenn Menschen nach religiöser Orientierung suchen. Und manchmal sind es auch Wendepunkte im eigenen Leben, die Menschen in eine Geistliche Gemeinschaft führen“, sagt die Münsteraner Praktische Theologin Judith Könemann, die Missbrauch in Geistlichen Gemeinschaften erforscht.

Die wachsenden Gemeinschaften wurden von der Kirche lange gefördert, sie bauten ihre Strukturen aus, insbesondere unter dem Pontifikat Papst Johannes Paul II. (1978-2005). "Die Kirche hat an diesen Gemeinschaften lange vor allem das Gute gesehen, kritische Entwicklungen wurden nicht oder kaum wahrgenommen. Das ändert sich erst in jüngster Zeit", sagt Könemann. So kam und kommt es immer wieder zu Streit zwischen Pfarreien und Gemeinschaften. Die Pfarrei bemängelt ein Überlegenheitsgefühl bei der Gemeinschaft, dagegen fühlen sich die Gemeinschaften von den Gemeindestrukturen gebremst. "Beide können aber auch voneinander lernen", sagt Poblotzki. "Die gefestigte Pfarrei kann Halt bieten, die Dynamik der Gemeinschaft neuen Schwung."

Nicht weniger konfliktreich kann die Gemeinschaft aber auch in sich selbst hineinwirken. "In der Anfangsphase sind da einige fragwürdige Dynamiken entstanden. Die Entscheidungen Einzelner wurden zum Beispiel schnell als der verbindliche Wille Gottes dargestellt", erzählt Schmitt. "Bei Chiara Lubich hat das zu einer hierarchischen Zuspitzung auf ihre eigene Person geführt. Für sie galt kein Ende der Amtszeit, ihr Wort hat die Richtung vorgegeben." Die Einheit, die sich die Gemeinschaft auf die Fahnen geschrieben hat, wurde als Homogenität interpretiert: Wer anders dachte, war unten durch.

Kontrolle der Kommunikation

In manchen Gemeinschaften führte das bis zum Missbrauch. "Kennzeichen des Missbrauchs in Geistlichen Gemeinschaften ist, dass die Mitglieder mit niemandem außerhalb der Gemeinschaft Kontakt haben sollen oder auch dürfen, ihre Kommunikation kontrolliert wird. Ein Kennzeichen ist ferner, dass die Kommunikation ausschließlich über die Leitung organisiert wird und Kommunikation, Austausch der Mitglieder untereinander unerwünscht ist und oft kaum geduldet wird", sagt Könemann. "Da soziale Bindungen nach außen und innen unterbunden werden, gibt es auch kaum noch ein Korrektiv und die Mitglieder sind allein auf die Leitung ausgerichtet. Das ist der Nährboden für Missbrauch, geistig wie sexuell. Die soziale Isolation wird darüber hinaus spiritualisiert und als notwendig für das religiöse Wachstum erklärt. Vielfach trägt die Atmosphäre dazu bei, dass Mitglieder der Gemeinschaft sich gegenseitig kontrollieren, im guten Glauben, den:die andere:n in seinem spirituellen Wachsen zu unterstützen. Der charismatischen Führungsfigur wird vertraut." Besonders dramatisch dabei, so Könemann: "Diese missbräuchliche Atmosphäre führt zu einer zunehmenden Selbstentfremdung und einem Selbstverlust bei den Mitgliedern bis hin zur Depersonalisation, wie die Pädagogin Hannah Schulz dies formuliert, wodurch allmählich jegliche Widerstandskräfte herabsetzt und schließlich außer Kraft gesetzt werden. Bei offiziellen Visitationen wurden diese Strukturen verschleiert, wozu auch beiträgt, dass Visitationen genauestens vorbereitet und durchchoreographiert wurden."

"In dieser Gemengelage liegt der spezifisch systemische Charakter des Geistlichen Missbrauchs", so Könemann: Die Leitung einer Region oder eines Hauses (forum externum) war oft ebenso die Person, die die Mitglieder geistlich begleitet hat (forum internum). Gebeichtet wurde nur bei Mitgliedern – Input von außen war unerwünscht. So kapselten sich manche Gemeinschaften ab. Irgendwann stellte niemand mehr Fragen. Die Folgen waren und sind fatal: Der Gründer der Gemeinschaft der Seligpreisungen, Gérard Croissant, missbrauchte Gemeinschaftsmitglieder wie andere Führungspersonen der Bewegung. Missbrauch gab es bei der Fokolar-Bewegung, bei den Bethlehemschwestern beging eine Schwester infolge von Missbrauch sogar Suizid. Von Manipulation und sektenartigen Strukturen war die Rede. Diese Reihe ließe sich fortsetzen: Der Legionäre-Christi-Gründer Marcial Maciel, der auch die dazugehörige Laien-Gemeinschaft Regnum Christi ins Leben rief, missbrauchte mindestens 60 Kinder und Jugendliche, bei der "Katholischen Integrierten Gemeinde" wurden Kinder von ihren Eltern getrennt, in der vor allem in Peru aktiven Gemeinschaft "Sodalicio" kam es jahrzehntelang zu Missbrauch verschiedenster Art. Zuletzt wurde sie von Papst Franziskus aufgelöst. Doch lange wurde in den Bewegungen wie auch auf Seiten der Kirche Missbrauch vor allem verschwiegen und verschleiert.

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Glauben hat viele Formen – Neue Geistliche Gemeinschaften sind eine davon. Manche sehen diese Bewegungen als Frischzellenkur für das Glaubensleben, andere äußern Kritik.

Audio: © Hartmann, Christoph Paul

Nach Dekaden des Vertuschens arbeiten manche Bewegungen nun ihre Geschichte auf – und die ihrer Gründer. "Chiara Lubich wird immer unsere Gründerin sein, ihre Texte sind Grundlage unserer Gemeinschaft", sagt Schmitt. "Aber vieles sehen wir auch historisch-kritisch." Wenn Lubich etwa anfangs von Ökumene nur im Sinne einer Rückholökumene dachte, was sie später selbst revidierte. Forum internum und forum externum sind mittlerweile getrennt, Anlaufstellen eingerichtet, Amtszeiten begrenzt. Doch so sieht es nicht überall aus, weiß Poblotzki: "Da gibt es durchaus immer wieder Gemeinschaften, die sich abschotten."

Auch mit Blick auf andere Bereiche sind die Gemeinschaften im 21. Jahrhundert angekommen: Die Zahlen der neuen zölibatär lebenden Mitglieder geht weltweit zurück, die der etwas loser Verbundenen steigt dagegen. Doch nicht bei allen: "Es gibt durchaus Gemeinschaften, die sich auf Dauer nicht halten konnten und sich schon wieder aufgelöst haben", so Poblotzki. Der große Boom der NGG besonders in den 1980er Jahren ist vorbei, die Zahl der großen Mitgliederzuwächse ebenso. "Das gilt nicht nur für Europa, sondern weltweit", weiß Schmitt. Die Gemeinschaften stehen vor den gleichen Herausforderungen wie die Kirche als Ganze – und haben doch auch ihre ganz eigenen Fragen, nach innen wie nach außen. "Ich kenne Bischöfe, die überlegt haben, wie sie Häuser oder Orte mit geistlichem Leben füllen könnten. Irgendwie ratlos haben sie im Internet eine Gemeinschaft heraus-gegoogelt, ohne sich tiefer mit ihrer Spiritualität auseinanderzusetzen.", sagt Poblotzki. "Das führt natürlich zu Missverständnissen und Verwerfungen", ist er überzeugt. "Die Kirche muss sich für ihre Gemeinschaften mehr interessieren, um ihnen den richtigen Platz zu geben. Die Gemeinschaften brauchen den Schutz der Kirche, in guten wie in schlechten Tagen."

Von Christoph Paul Hartmann