Benediktiner: "Zeit des Verschweigens ist vorbei"
In Ungarn gibt es seit kurzem die Initiative "Kindertafel", die sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche aufarbeiten möchte und Betroffene in den Blick nimmt. Erzabt Cirill Hortobágyi von der Benediktinerabtei Pannonhalma ist Mitglied der Initiative. Im Interview mit katholisch.de spricht der Abtpräses der ungarischen Benediktinerkongregation über konkrete Forderungen an die ungarischen Bischöfe und über einen Missbrauchsfall im eigenen Kloster.
Frage: Herr Erzabt, warum sind Sie ein Mitglied der Initiative "Kindertafel", die sich um die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der ungarischen Kirche kümmert?
Erzabt Cirill: Früher habe ich naiv geglaubt, dass die Kirche heilig ist. Mir war nicht bewusst, dass es in der Kirche Mitglieder gibt, die sich nicht wie Heilige benehmen und anderen Menschen Schlimmes antun. In früheren Zeiten, wenn in der ungarischen Kirche ein Missbrauchsfall bekannt wurde, ging es darum, die Täter und die Institution zu schützen. Heute darf das nicht mehr sein. Daher haben wir die "Kindertafel" gegründet. Wir sind kein kirchliches Gremium und wir arbeiten auch nicht im Auftrag eines Bistums, wir sind eine unabhängige Kinderschutz-Gruppe. Wir setzen uns für Betroffene ein, beraten und helfen weiter. Jeder kann sich an uns wenden, wir laden auch Bischöfe zu Gesprächen ein.
Frage: Wer sind die anderen Mitglieder der Initiative?
Erzabt Cirill: In der Gruppe engagieren sich Juristen, eine Kinderrechts-Expertin sowie ein Journalist, der schon Fälle des Kindesmissbrauchs in der ungarischen Kirche aufgedeckt und darüber berichtet hat. Es sind Theologen dabei, die sich mit dem Thema beschäftigen. Zu uns gehört auch ein Betroffener, der als Ministrant sexuell missbraucht wurde. Heute kann er über das, was er erlebt hat, sprechen. Das ist sehr hilfreich für unsere Arbeit. Er hat Schlimmes durchmachen müssen. Doch weil er darüber gesprochen hat, konnte sein Fall aufgedeckt werden und der beschuldigte Kleriker bestraft werden.
Frage: War dies der erste Fall in der Kirche Ungarns, der bekannt wurde und damit den Missbrauchsskandal dort ausgelöst hat?
Erzabt Cirill: Nein, das war nicht der erste Fall. Schon 2015 gab es einen Fall, der in vielen ungarischen Medien Schlagzeilen machte. Dieser betraf mein eigenes Kloster. Unsere Abtei Pannonhalma ist in Ungarn sehr bedeutend. Wir haben eine große Basilika und wir betreiben seit Jahrhunderten eine Klosterschule, ein Gymnasium mit Internat. Einer der Lehrer dort, ein Benediktiner und sehr bekannter Priester in der Gegend, wurde übergriffig. Ehemalige Schüler haben sich gemeldet und uns berichtet, dass sich ihr Lehrer in den frühen 2000er Jahren "komisch" benahm und etwas mit ihm nicht stimmte. Sie sprachen von "unanständigen Berührungen". Wir haben dann herausgefunden, dass es eine Mischung aus verbalem, spirituellem und sexuellem Machtmissbrauch war.
Frage: Waren Sie damals mit der Aufarbeitung des Missbrauchsfalles betraut?
Erzabt Cirill: Ja, ich war damals Prior der Abtei. Ich war sehr erschrocken über das, was ich gehört habe. Ich war selbst einmal Schüler an diesem Gymnasium, habe dort später als Geographielehrer unterrichtet und war sogar für eine kurze Zeit als Direktor angestellt. Ich habe von Anfang an ernst genommen, was Betroffene uns erzählt haben und sie dazu ermutigt, weitere Betroffene zu finden. 2015 hat der damalige Erzabt Asztrik Várszegi die ehemaligen Schüler unserer Einrichtung öffentlich um Entschuldigung gebeten. Dann gab es Anhörungen und wir haben das kirchliche Verfahren gegen den beschuldigten Mönch eingeleitet. Der Täter hat dann aber den Orden verlassen und wurde aus dem Klerikerstand entlassen. Wir wissen nicht, wo er sich heute aufhält. Ich hoffe, er kann keine Taten mehr begehen. Viele ehemalige Schüler wurden von uns mit Therapien begleitet, einige auch mit finanziellen Hilfen. Seit 2015 gibt es in der Abtei eine Kinderschutzgruppe, die Präventivmaßnahmen in allen Einrichtungen des Klosters umsetzt. Wir haben auch einiges an der Schule verbessert. Heute ist nicht nur ein Lehrer, sondern gleich zwei oder drei für eine Schulklasse zuständig. Wir haben Aufklärungsprojekte eingeführt und ein umfassendes Kinderschutzprotokoll entwickelt, um sicher zu stellen, dass sich solche Straftaten nicht wiederholen. Die Eltern unserer Schüler sind uns dankbar dafür. Dennoch ist noch viel zu tun.

Die ungarische Erzabtei Pannonhalma auf dem Martinsberg, in der 50 Benediktiner leben. Die Abtei betreibt zwei Schulen und ein Internat.
Frage: War es schwer für Ihre Klostergemeinschaft, über das Thema sexueller Missbrauch zu reden?
Erzabt Cirill: Ja, anfangs war es da. Wir hatten 2015 eine Visitation im Kloster. Damals besuchte uns Pater Martin Werlen, der ehemalige Abt des Schweizer Klosters Einsiedeln. Er berichtete uns davon, wie seine Klostergemeinschaft Missbrauchsfälle aufgearbeitet hatte. Er hat uns ermutigt, offen über das alles zu sprechen und Betroffene, um ihre Mithilfe zu bitten. Das haben wir gemacht. Im Zuge dieser Aufarbeitung sind noch weitere Fälle von sexuellem Missbrauch in unserem Kloster ans Tageslicht gekommen. Wir gehen weiterhin von einer Dunkelziffer aus. Heute reden wir im Kloster offen darüber. Doch ich erlebe noch immer Menschen, die sagen, das ist doch alles schon lange her und vorbei, man müsse es ruhen lassen. Viele haben Angst, weil sie fürchten, dass durch das Aufrollen der Missbrauchstaten der Kirche Schaden zugefügt werde. Die katholische Kirche Ungarns hat lange unter der kommunistischen Regierung gelitten, wurde unterdrückt und lebte im Geheimen. Die Christen waren damals einem enormen Druck ausgesetzt. Manche haben das noch in ihrem Unterbewusstsein abgespeichert, dass man die Kirche um jeden Preis schützen müsse. Manche Gläubige, auch Kirchenvertreter, betonen daher sehr stark, man solle nicht mit der Kirche anfangen, sondern zuerst in den Familien oder Sportvereinen schauen. Ich finde, das ist eine Ausrede. Als wir den Missbrauch in unserer Abtei öffentlich machten, sagten mir manche, dass ich die Kirche damit schwächen würde und sie in den Selbstmord treibe. Aber in vielen Gesprächen mit Betroffenen weiß ich, es war das einzige Richtige, was wir getan haben. Ich bin betroffen von dem Leid, das anderen angetan wurde, daher kann ich gar nicht anders, als mich für diese Menschen einzusetzen. Und ich entschuldige mich bei den Menschen, die in unseren Einrichtungen Schaden, Demütigung und Missbrauch erlitten haben.
Frage: Sie sprachen bislang von Einzelfällten. Wie viele Betroffene sexuellen Missbrauchs in der ungarischen Kirche gibt?
Erzabt Cirill: Das wissen wir nicht. Es gibt keine genauen Zahlen. Wir haben bislang nur die Kenntnis von etwa 30 Fällen an Kindesmissbrauch durch Priester oder Ordensleute, die in den letzten 25 Jahren aufgedeckt, aufgearbeitet und mit einem Verfahren abgeschlossen wurden. Doch rechtskräftige Urteile fehlen bislang. Daneben gibt es einzelne Strafverfahren an Missbrauchstätern, die in den Diözesen oder Ordensgemeinschaften laufen. Ich wäre froh, wenn es einen umfassenderen Bericht je nach Ländern oder Diözesen geben würde. So ein Bericht würde nicht nur die kirchlichen Gemeinschaften, sondern die gesamte Gesellschaft bei der Auseinandersetzung mit Missbrauch und Kinderschutz unterstützen. Aber es fehlen Daten und Hinweise. In der Vergangenheit wurden nicht alle Delikte dokumentiert. Daher ist es schwierig, wenn ein Missbrauch zum Beispiel in den 1960er oder 1970er Jahren stattgefunden hat. Es finden sich dazu keine Angaben in den Archiven. Zur Zeit des Kommunismus wurden solche Fälle verschwiegen. Auch fehlt eine eigene Missbrauchsstudie in meiner Erzabtei. Es gibt bislang nur Teilanalysen oder Zusammenfassungen einzelner Vorkommnisse. All das erschwert die Aufarbeitung der sexuellen Missbrauchskrise in Ungarn enorm. Wir brauchen dringend die Mithilfe von interdisziplinären Fachleuten aus Ungarn und auch aus dem Ausland. Wir werden als Initiative "Kindertafel" demnächst einen Studienband veröffentlichen. Dort geht es um eine umfassendere Analyse des Phänomens des sexuellen und geistlichen Missbrauchs. Es ist ein erster Schritt.
Frage: Was wünschen Sie sich für die Aufarbeitung der Missbrauchskrise in der ungarischen Kirche?
Erzabt Cirill: Ich wünsche mir, dass in Zukunft niemand mehr unter sexuellen oder spirituellen Missbrauch leiden muss. Ich möchte Betroffene dazu ermutigen, darüber zu sprechen, was sie erlebt haben. Ohne Angst. Jeder, der Missbrauch erlebt hat, hat Schlimmes durchgemacht. Dafür müssen wir als Kirche Verantwortung übernehmen. Ich wünsche mir eine angemessene finanzielle Hilfe für die Opfer und mehr Formen der Wiedergutmachung für Betroffene, die durch kirchliche Mitarbeiter geschädigt wurden. Ich wünsche mir, dass Klöster, Pfarreien, Gemeinschaften und Schulen sichere Orte für Kinder und Erwachsene sind. Ich habe auch eine Bitte an die Priester und Bischöfe in Ungarn: Reden Sie mit Betroffenen! Wer so eine Betroffenheit kennenlernt, wird selbst betroffen. Heute weiß jeder, dass die Versetzung eines Priesters nicht die Lösung ist. Diese Zeiten des Verschweigens sind vorbei. Heute müssen wir zuhören und uns ehrlich mit unseren Fehlern auseinandersetzen und daraus Konsequenzen folgen lassen. Wir haben zu lange gewartet.