Vatikan-Experte: Kampf um Franziskus-Nachfolge hat schon begonnen
In seinem neuen Buch "Der Unvollendete. Franziskus‘ Erbe und der Kampf um seine Nachfolge" spricht der italienische Journalist und Vatikan-Kenner Marco Politi von einer Zerreißprobe, in der sich die katholische Kirche derzeit befindet. Im Buch setzt er sich ausführlich mit dem Pontifikat von Papst Franziskus auseinander und schaut kritisch auf die Mobilisierung seitens des erzkonservativen Flügels. Warum die Reformorientierten hingegen passiv und schlechter organisiert waren, erklärt Politi im Interview mit katholisch.de.
Frage: Herr Politi, der Papst ist seit einigen Wochen im Krankenhaus. Über verschiedene Szenarien wird bereits nachgedacht. Wie empfinden Sie das?
Politi: Die Situation steht auf Messers Schneide. Es kann in die eine oder in die andere Richtung gehen. Jetzt hat es Verbesserungen gegeben und man muss sehen, ob das von Dauer ist. Aber eines ist sicher: Wenn Franziskus aus dem Krankenhaus in den Vatikan zurückkehrt, wird er mit einer angeschlagenen Gesundheit regieren, denn sein Atemsystem ist sehr fragil. Die Frage wird sein, ob er weitermacht oder ob er sich zurückzieht. Franziskus will auf jeden Fall noch das Jubiläumsjahr leiten und bei den großen Feiern dabei sein, aber am Ende des Jahres wird er 89 Jahre alt sein. Dann muss eine Entscheidung getroffen werden.
Frage: Kardinal Müller aus dem traditionellen Flügel der Kirche hat zu einem möglichen Papst-Rücktritt gesagt, man steige nicht vom Kreuz herab. Wie beurteilen Sie eine solche Aussage?
Politi: Das ist eine sehr interessante Aussage, denn einerseits will Kardinal Müller, dass die traditionelle Form des Pontifikats erhalten bleibt, also dass man Papst auf Lebenszeit ist, und dass Ratzinger eine Ausnahme war und dass ich diese Ausnahme nicht einbürgern soll. Auf der anderen Seite zeigt es auch, dass Kardinal Müller wie andere ultrakonservative Kardinäle im Moment sehr vorsichtig ist: Sie wollen nicht zeigen, dass der Wahlkampf schon begonnen hat. Denn die Ultrakonservativen wissen, dass sie nicht stark genug sind, um dem Konklave einen Kandidaten aufzuzwingen. Denn es ist klar, dass man einen Kompromiss mit der großen Mitte finden muss. Die große Mitte ist eine Gruppe von Kardinälen, die verschiedenen Richtungen angehören, die die theologische Linie von Franziskus unterschiedlich betrachten. Manchmal sind sie offen, vielleicht für die Kommunion für die wiederverheirateten Geschiedenen, aber dann sind sie zum Beispiel gegen die Segnung homosexueller Paare.

In seinem neuen Buch "Der Unvollendete. Franziskus‘ Erbe und der Kampf um seine Nachfolge" spricht der italienische Journalist und Vatikan-Kenner Marco Politi von einer Zerreißprobe, in der sich die katholische Kirche derzeit befindet.
Frage: Sie sprechen in Ihrem neuen Buch "Der Unvollendete. Franziskus' Erbe und der Kampf um seine Nachfolge" gar von einem Bürgerkrieg…
Politi: Zwölf Jahre lang herrschte in der Kirche ein heftiger Bürgerkrieg. Die Ultrakonservativen waren gegen Franziskus, gerade wegen der Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene. Sie wollten kein Frauendiakonat und verlangen, dass der Zölibat bleibt, sie sind gegen die Segnung homosexueller Paare. Aber sie wissen, wenn es zum Konklave kommt, kann man nicht so sehr mit extremistischen Parolen schreien, da muss man vorsichtiger sein.
Frage: Gehören zu den möglichen Kandidaten etwa Namen wie die der Kardinäle Burke, Sarah oder Müller?
Politi: Das sind Namen, die man kennt, und das sind sozusagen die Kämpfer in diesem "Bürgerkrieg". Kardinal Sarah hat sich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass es im Amazonasgebiet nicht zu einer Öffnung des Priesteramtes für die sogenannten "viri probati" kommt und dazu ein Buch herausgegeben. Er hat damals dafür auch den emeritierten Papst Benedikt XVI. eingespannt. Aber diese Kämpfer sind nicht die Kandidaten. Im Moment halten sie ihre Karten versteckt, bis der richtige Moment kommt...
Frage: In Ihrem Buch haben sie die ungleiche Mobilisierung kritisch gesehen. Konservative Gruppen seien sehr gut organisiert, die Liberalen eher weniger. Warum ist das so?
Politi: Es hat in den letzten Jahrzehnten eine Schwächung der reformorientierten Bischöfe und Kardinäle gegeben. In den späten 60er und 70er Jahren gab es immer wieder Kardinäle oder Bischöfe, die öffentlich starke Position einnahmen – in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Spanien oder Italien. Dann haben Johannes Paul II. und später Ratzinger die Kritik und die Suche nach neuen Wegen sehr gedämpft. Mit Franziskus hat sich das geändert, neue Zeichen sind gesetzt worden.
„Es hat in den letzten Jahrzehnten eine Schwächung der reformorientierten Bischöfe und Kardinäle gegeben.“
Frage: Aber?
Politi: Es gibt eine lautstarke und gut organisierte Opposition mit vielen Websites, die aktiv gegen den Papst wettert. Der reformorientierte Flügel der Kirche war auf der internationalen Bühne nicht so aktiv und hat nicht mobilisiert. Wahrscheinlich wollte Franziskus nicht, dass eine solche Mobilisierung der Reformer die Spaltung in der Kirche vertieft. Aber wenn es eine Strategie war, dann war es eine schlechte. Denn die Progressiven waren eher passiv.
Frage: Warum?
Politi: Als Beispiel für die Passivität der Reformkräfte möchte ich das Reformprojekt der katholischen Kirche in Deutschland – den Synodalen Weg – anführen. Mit der Diskussion, die dort angestoßen wurde, war die Kirche in Deutschland sozusagen an der Spitze der internationalen Reformbewegung. Aber man hat so wenige Stimmen aus anderen Bischofskonferenzen gehört, die zum Beispiel gesagt haben, sie sind einverstanden oder sie sind nicht mit allem einverstanden, aber es ist gut, dass die vielen Themen diskutiert werden. Es ist gut, dass man in Deutschland nach Lösungen sucht. Stattdessen war Stille – und man hat gesehen, dass sich die konservativen Kräfte in bestimmten Momenten wieder besser organisiert haben.
Frage: Auch international, wenn man vor allem auf ein mögliches Konklave blickt, etwa mit einer Webseite über die Kardinäle…
Politi: Das ist ein sehr geschickter Schachzug der – sagen wir mal – "gemäßigten Konservativen", um eben die Wahl irgendwie zu beeinflussen. Wir sehen hier, dass die Reformkräfte keine Initiativen haben. Ich kann aber auch verstehen, dass man keine Namen nennen will, weil man sich damit die Chance auf die Wahl ruiniert. Aber zumindest hätten sich diese Kräfte in die Debatte einbringen können, indem sie sagen, was die wichtigen Themen für die Kirche des 21. Jahrhunderts sind oder diese wieder aufgreifen, so dass sich daraus auch eine Kandidatur oder zumindest das Profil einer Kandidatur ergibt. Dazu gehört eindeutig die Frage nach der Rolle der Frau in der Kirche.

"Zwölf Jahre lang herrschte in der Kirche ein heftiger Bürgerkrieg. Die Ultrakonservativen waren gegen Franziskus, gerade wegen der Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene. Sie wollten kein Frauendiakonat und verlangen, dass der Zölibat bleibt, sie sind gegen die Segnung homosexueller Paare. Aber sie wissen, wenn es zum Konklave kommt, kann man nicht so sehr mit extremistischen Parolen schreien, da muss man vorsichtiger sein", meint Politi.
Frage: Ebenso sprechen Sie von einer fehlenden Auseinandersetzung mit Europa, weil Franziskus vor allem die Peripherie der Weltkirche in den Blick genommen hat. Die europäischen Kernländer wurden weniger berücksichtigt. Stattdessen gab es immer wieder Stoppschilder, vor allem, was den Synodalen Weg in Deutschland betrifft. Hätte sich der Papst mehr darum kümmern müssen?
Politi: Gerade die "alten Länder des Katholizismus", das Herzstück des europäischen Katholizismus, haben fast keine Beachtung gefunden. Insofern ist das Pontifikat eben – wie der Buchtitel suggeriert – unvollendet. Aber es ist verständlich, dass Franziskus am Anfang an die Ränder der Weltkirche gehen wollte. Das war auch sehr positiv und hat viel Aufmerksamkeit erregt. Aber die Katholiken in Frankreich, Deutschland, Österreich, England oder auch Spanien sind heute auch an den Rändern. Denn die Krise der Kirche, des Glaubens und der kirchlichen Strukturen ist gerade in Europa stark. Es fehlen immer mehr Priester, es gehen immer weniger junge Menschen ins Priesterseminar, es fehlen auch Ordensfrauen. Es fehlt auch an Gläubigen, und deshalb hätte Franziskus auch diese Länder besuchen sollen. Das hat zu Irritationen geführt, auch bei denen, die die theologische Linie von Franziskus teilen.
Frage: Priestermangel und die Rolle der Frauen sind wichtige Themen in diesen Ländern. Doch Franziskus unternimmt auch Schritte, etwa die jüngste Ernennung einer Frau zur Regierungschefin im Vatikanstaat. Will er damit nur einen kleinen Türspalt öffnen und die restlichen Reformen seinem Nachfolger überlassen?
Politi: Das zeigt erstens, dass die Päpste und auch die römische Kurie im 21. Jahrhundert nicht mehr allmächtig sind. Die Kurie wollte mit Unterstützung des Papstes den deutschen Synodalen Weg stoppen, aber die deutschen Bischöfe sind einfach weitergegangen. Oder ein anderes Beispiel: Das Glaubensdikasterium sagt, man kann homosexuelle Paare segnen, und die afrikanischen Kirchen sind dagegen. Das zeigt eben, dass es diese Allmacht nicht mehr gibt. Und der zweite Punkt ist, dass auch der Papst kein allmächtiger Monarch mehr ist. Das ging vom Tridentinum bis nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Nehmen wir nur Johannes Paul II. Er hat in manchen Fällen noch sehr autoritär gehandelt. Aber diese Allmacht ist vorbei, und der Papst heute, ob Franziskus oder ein anderer, muss auf die verschiedenen Kulturen und sozialen Verhältnisse Rücksicht nehmen. Die südamerikanischen Bischöfe und Priester denken anders als die westeuropäischen, die osteuropäischen wieder anders, ganz zu schweigen vom Klerus in Asien.
„Gerade die 'alten Länder des Katholizismus', das Herzstück des europäischen Katholizismus, haben fast keine Beachtung gefunden. Insofern ist das Pontifikat eben – wie der Buchtitel suggeriert – unvollendet.“
Frage: Wie sollte man da vorgehen?
Politi: Ein Papst muss eine Mehrheit hinter sich haben, und in der Frauenfrage hatte Franziskus diese Mehrheit eben nicht hinter sich. Er hat zwar die Diskussion über den Frauendiakonat eröffnet, aber die Kommissionen waren gespalten. Die zweite Kommission ist gescheitert und jetzt soll eine weitere im Glaubensdikasterium arbeiten und am 15. Juni dieses Jahres erste Ergebnisse liefern. Viele glauben, dass es angesichts der Krankheit des Papstes und der Situation nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus keine großen Neuigkeiten geben wird. Aber als politischer Kopf versucht Papst Franziskus, Frauen in Führungspositionen in der Kurie zu bringen. Das ist sicher eine nicht zu unterschätzende Neuigkeit.
Frage: Reicht das aus?
Politi: Es ist klar, dass die Frauen in der nördlichen Hemisphäre über das Ausbleiben von Reformen sehr verärgert sind. Aber die Entscheidung des Papstes, Laien und Frauen an der Weltsynode zu beteiligen und ihnen Stimmrecht zu geben, ist eine Revolution. Es ist das erste Mal seit 1.700 Jahren, dass Frauen an einer Bischofssynode teilnehmen. Es gibt kein Zurück mehr.
Buchhinweis
Marco Politi: Der Unvollendete. Franziskus' Erbe und der Kampf um seine Nachfolge, Verlag Herder 2025, 240 Seiten, ISBN: 978-3-451-39745-5.