Individuelle Beträge ohne Obergrenze

Evangelische Kirche reformiert Zahlungen für Missbrauchsbetroffene

Veröffentlicht am 21.03.2025 um 15:17 Uhr – Lesedauer: 6 MINUTEN

Hannover ‐ Einheitliche Regeln und externe Kontrolle: Die evangelische Kirche hat eine Reform ihrer Zahlungen an Missbrauchsbetroffene beschlossen. Das Modell ist umstritten – und erst nach zähem Ringen entstanden. Jetzt geht es an die Umsetzung.

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Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat eine neue Anerkennungsrichtlinie für Betroffene sexualisierter Gewalt beschlossen. Demnach sollen in Zukunft Anerkennungsleistungen für Betroffene in der evangelischen Kirche und Diakonie bundesweit nach einheitlichen Standards gezahlt werden, wie die EKD am Freitag in Hannover mitteilte. Die Umsetzung liege nun bei den Landeskirchen und den Diakonie-Landesverbänden. Sie solle nach Möglichkeit bis zum 1. Januar 2026 erfolgen.

Die EKD-Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs, erklärte: "Wir legen mit der neuen Richtlinie die Grundlage, um endlich den nicht hinnehmbaren Zustand zu beenden, dass Anerkennungsverfahren für ähnliche Taten in verschiedenen Landeskirchen zu verschiedenen Ergebnissen führen."

Individuelle Entscheidungen

Laut EKD beinhaltet die neue Richtlinie eine Kombi-Regelung. Basis sei eine individuelle Leistung. Deren Höhe orientiere sich an der jeweiligen Tat und den individuellen Folgen. Es gebe keine Obergrenze. Zusätzlich soll es eine pauschale Leistung in Höhe von 15.000 Euro in Fällen von strafbaren Taten geben. Diese würde auch gezahlt, wenn der Straftatbestand bereits verjährt sei.

Weitere Inhalte seien ein Gesprächsrecht für Betroffene, die über erfahrenes Unrecht im geschützten Raum und mit Begleitung berichten können. Zudem gebe es einheitliche Regelungen zur Zusammensetzung der Anerkennungskommissionen, die künftig aus externen Experten bestehen sollen. Mindestens ein Mitglied müsse die Befähigung zum Richteramt haben.

Betroffene befürworten Entscheidung

Die Ausarbeitung der Richtlinie war ein zähes Ringen, an dem auch Betroffene im Rahmen des EKD-Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt beteiligt waren. Deren Sprecher Detlev Zander lobte die Reform als Ergebnis intensiver Verhandlungen. "Bisher gibt es in Deutschland keine so weitgehende Anerkennung des erlittenen Leides und ihrer Traumaspätfolgen durch sexualisierte Gewalt."

Schon im Vorfeld war die Richtlinie auch auf Kritik gestoßen. Das Modell sei komplex und werde viele Betroffene vor neue Hürden stelle, sagte etwa die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) im November. Die individuelle Leistung solle sich nicht an der Schwere der Taten orientieren, sondern an den individuellen Bedürfnissen, die Betroffene entsprechend offenlegen müssten. "Allein das wird für viele eine Hürde sein", so Claus.

Katholisches System seit 2021 in Kraft

In der katholischen Kirche ist seit 1. Januar 2021 die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) für die Vergabe von Leistungen für Betroffene sexuellen Missbrauchs zuständig. Die Einrichtung nimmt Anträge der Betroffenen über die jeweiligen Ansprechpersonen der Bistümer oder Ordensgemeinschaften entgegen, legt eine Leistungshöhe fest und weist die Auszahlung an Betroffene an. Entschieden wird dabei laut der UKA streng nach der Verfahrensordnung als Einzelfallentscheidung auf der Basis dessen, was im individuellen Antrag vorgetragen werde.

Als Orientierungsrahmen für die zu ermittelnde Leistungshöhe dienten Entscheidungen der weltlichen Gerichtsbarkeit. Dadurch sind die zuerkannten Beträge seit Einrichtung der Kommission gestiegen. Das System steht immer wieder in der Kritik von Betroffenen. 2023 führten die deutschen Bischöfe ein Recht auf Akteneinsicht und ein Widerspruchsverfahren für Betroffene ein. Weitere grundsätzliche Änderungen schlossen sie aber wiederholt aus, zuletzt bei der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). (fxn/KNA)

Die inhaltlichen Schwerpunkte der Richtlinie

  • Leistungen: Das neue Verfahren soll in allen 20 Landeskirchen der EKD und den 17 Diakonie-Landesverbänden einheitlich angewendet werden. Es sollen also dieselben Regeln für alle Betroffenen aus dem evangelischen Kontext gelten, egal in welchem Verantwortungsbereich einer Landeskirche oder eines Diakonie-Landesverbands die Taten stattgefunden haben. Es handelt sich um ein eigenständiges Verfahren, das nichts mit juristischen Verfahren vor staatlichen Gerichten zu tun hat. Kirche und Diakonie erkennen laut der Richtlinie mit den Leistungen das Leid an, das den Betroffenen in ihrem Bereich widerfahren ist, und berücksichtigen die daraus resultierenden individuellen Folgen.
  • Geld: Künftig soll es ein kombiniertes Modell geben aus einer pauschalen Leistung in Höhe von 15.000 Euro, wenn die Tat nach heutigen Maßstäben strafrechtlich relevant war, und einer individuellen Zahlung. Eine Obergrenze für die Zahlungen gibt es nicht. Auch immaterielle Leistungen sind zusätzlich möglich. Betroffene können außerdem entscheiden, ob sie sich das Geld auf einmal auszahlen lassen oder in mehreren Teilzahlungen. Die Zahlungen würden nicht auf staatliche Transferleistungen wie Bürgergeld angerechnet, sagte der Sprecher der Betroffenen im Beteiligungsforum von EKD und Diakonie, Detlev Zander, dem Evangelischen Pressedienst (epd).
  • Antrag: Betroffene können über ein Formblatt, das ihnen zur Verfügung gestellt wird, Anerkennungsleistungen beantragen. Zuständig sind unabhängige Anerkennungskommissionen. Sie erhalten ein Recht auf ein Gespräch mit der Kommission. Sie müssen auch keine Beweise für die Tat vorlegen. Die Kommission prüft lediglich die Angaben auf Plausibilität. Auch Menschen, die schon einmal eine Zahlung erhalten haben, können erneut einen Antrag einreichen. Das neue System könnte zu einer Erhöhung der Zahlungen führen.
  • Kommissionen: Die unabhängigen Anerkennungskommissionen leiten die Verfahren. Die Kommissionen sollen aus mindestens drei Mitgliedern bestehen und müssen immer eine ungerade Zahl an Mitgliedern haben. Beschäftigte von Kirche und Diakonie dürfen nicht Mitglieder werden. Zudem soll wenigstens eine Person über die Befähigung zum Richteramt, mindestens eine weitere über eine traumatherapeutische Qualifikation verfügen, wie es in der Richtlinie heißt.
  • Umsetzung: Die Richtlinie soll ab Januar 2026 überall angewendet werden. Zander betonte, dass es nun auf die flächendeckende Umsetzung ankomme. Denn die Landeskirchen und Diakonie-Landesverbände müssen die Richtlinie noch übernehmen. Dazu heißt es in der Richtlinie: Den Gliedkirchen und der Diakonie wird empfohlen, entsprechende Regelungen auf Grundlage dieser Richtlinie zu treffen. Das müsse zügig gehen, forderte der Betroffenensprecher. "Wir dürfen den Betroffenen nicht noch mehr Leid auferlegen."

(epd)