Mama, Papa, die Fremden und ich
Es war das Frühjahr 1990. Ich war acht Jahre alt. Neonazis hatten im Vorbeifahren Brandsätze in das Asylbewerberheim geworfen. Das Haus, die sogenannte Alte Schule, hatte der Hitze nur alte Holzbalken entgegenzusetzen. Manche Bewohner, aus dem Schlaf gerissen, schafften es nicht mehr, durch das brennende Treppenhaus hinauszukommen, und sprangen aus den Fenstern im zweiten Stock. Es gab vier Verletzte. Ein Kind wurde mit schweren Verbrennungen an Rücken und Gesicht ins Krankenhaus gebracht. Beide Beine waren gebrochen. Die Täter wurden nicht gefasst.
"Wir hatten doch gar keine Wahl"
Der Anschlag hatte das Dorf entsetzt. Meine Eltern und einige andere gründeten den "Arbeitskreis Asyl" und gingen sofort an die Arbeit. Zuerst mussten die verängstigten Flüchtlinge versorgt werden. Die Gemeinde hatte sie in einem Haus untergebracht, das normalerweise für Filmabende und Krabbelgruppen genutzt wurde. Ein einziger Raum, den sich Familien, Alleinstehende, Männer, Frauen, Junge und Alte teilten. Säuglinge wurden hier gestillt, Väter spielten mit ihren Kindern. Eine Frau aus dem Dorf holte sie ab, brachte sie zur Grundschule, wo sie duschen konnten. Andere versorgten sie mit Suppe. Meine Eltern warfen einen Blick auf die Situation und fackelten nicht lang. "Wir hatten doch gar keine Wahl", sagt meine Mutter heute.
Meine Eltern sind hauptberufliche Katholiken: Meine Mutter leitet eine Eheberatungsstelle, mein Vater ist Theologieprofessor. Ihr Christsein endet nicht nach Dienstschluss. "Keine Wahl" – das bedeutete: Sie konnten nicht anders, als Menschen in Not eine Herberge zu geben.
Von nun an teilten wir unser Haus mit einer Familie aus dem Libanon, Mutter, Vater, vier Kinder. Mein Elternhaus ist groß, ein ehemaliger Bauernhof mit einem Innenhof und mehreren Eingängen. Wir hatten Platz. Meine drei kleinen Brüder und ich betrachteten die neuen Mitbewohner schweigend und neugierig. Die anderen Kinder waren etwa so alt wie wir, aber ihr Haar und ihre Augen waren tiefschwarz. Der Jüngste, noch ein Baby, wurde Hamoudi gerufen. Heute weiß ich, dass das der arabische Spitzname für Mohammed ist, aber jahrelang hielt ich es für seinen richtigen Namen. Die Namen seiner Schwestern klangen in unseren Ohren vertrauter.
Das Ehepaar Salama* war vielleicht 18, als es nach Deutschland kam, und hatte schon eine Tochter. Das muss etwa im Jahr 1982 gewesen sein, nach Ausbruch des Libanon-Krieges. Die folgenden Jahre verbrachten sie in verschiedenen Übergangsheimen. Ihr zweites und drittes Kind kamen im Bonner Elisabeth-Krankenhaus zur Welt und wurden liebevoll von der Kinderkrankenschwester Helga betreut. Aus Dankbarkeit nannten die Salamas die Mädchen Elisabeth und Helga. Ungewöhnlich für muslimische Kinder, vermute ich.
Als ich knapp 20 Jahre später zur Entbindung meines Sohnes in ebendieses Elisabeth-Krankenhaus ging, war Schwester Helga noch immer im Dienst. Und sie erinnerte sich noch.
„In dieser Zeit lernte ich: Ausländerhass ist das Schlimmste auf der Welt. Es war mir unbegreiflich, wie man gegen Menschen hetzen konnte, nur weil sie aus einem anderen Land kamen.“
Frau Salama spülte in einer Wirtschaft, er gärtnerte bei der Stadt. Die Jobs hatten meine Eltern dem Paar besorgt. Morgens verließen die beiden das Haus und überließen ihre Kinder sich selbst. Oder eben meiner Mutter. Die älteste Schwester wickelte Hamoudi. Insgesamt tobten also acht Kinder durchs Haus, wir spielten zusammen in Hof und Garten. Ich mochte die Große und fand nichts dabei, dass sie die Verantwortung für ihre kleinen Geschwister übernahm, während ich von Mama und Papa meine Kleider herausgelegt und das Pausenbrot geschmiert bekam.
Ein zweiter Anschlag lag in der Luft
Meine Mutter erinnert sich daran, dass der Arbeitskreis Asyl und auch der Pfarrer mit vereinten Kräften nach einem Haus suchten. Es war klar, dass die Familie mehr Platz brauchte, aber wenig Geld hatte. Gleichzeitig entbrannte im Dorf ein Kampf um die Flüchtlingsunterkunft. Mein Vater und andere Männer wechselten sich nachts ab, um davor Wache zu halten. Immer wieder kamen junge Männer auf Motorrädern und umrundeten das Gebäude. Ein zweiter Anschlag lag in der Luft. Vielen der alteingesessenen Bauern und Traditionalisten waren die "Asylanten" unheimlich. Wer wusste denn schon, was die Fremden wirklich trieben? Man verstand sie ja kaum, die Syrer, Libanesen und Iraker, Sinti und Roma. "Wir sollten auch Verständnis für die Nachbarn haben", gab damals ein städtischer CDU-Abgeordneter zu bedenken. Sie seien mit problematischen Asylbewerbern konfrontiert.
Wer sich wie meine Eltern für die Asylbewerber engagierte, deutete solche Äußerungen als Hartherzigkeit. Wenn mein Vater sich daran erinnert, lodert sein Blick. "Als damals das Asylheim brannte, rannten die Bewohner in Panik umher und klingelten an den Türen. Sie hatten kein Telefon und brauchten einfach Hilfe. Niemand hat ihnen geöffnet."
Ich wurde zur glühenden Verteidigerin meiner Eltern. In dieser Zeit lernte ich: Ausländerhass ist das Schlimmste auf der Welt. Es war mir unbegreiflich, wie man gegen Menschen hetzen konnte, nur weil sie aus einem anderen Land kamen. Mit der grenzenlosen Selbstgefälligkeit einer Neunjährigen wusste ich, dass ich auf der richtigen Seite stand. Ja, meine Eltern haben uns früh politisiert. Es war ein praktischer Unterricht, sie hielten uns keine Reden.
Friedensdemostration anstatt Rosenmontagszug
1991, als der Zweite Golfkrieg seinen Höhepunkt erreichte, fiel der Kölner Rosenmontagszug zugunsten einer Friedensdemonstration aus. Natürlich gingen wir hin. Die Straßen waren übervoll mit Menschen, die anstelle von Clownskostümen Gasmasken trugen und Transparente schwenkten. Dazu kam die Kampagne "Arsch huh, Zäng ussenander" (auf Hochdeutsch etwa: "Hintern hoch, Mund auf") gegen rechte Gewalt. Kölner Mundartgrößen nahmen ein Album gegen Ausländerhass auf. Die Kassette hörten wir Tag und Nacht, auch im Auto, als wir im Urlaub durch Südfrankreich fuhren. Worte wie "Saddam", "Kuwait" und "Streitkräfte" setzten sich groß und dunkel in meinem Kopf fest. Ich spürte, die Welt war in Gefahr, fern von uns wütete ein Krieg, aber die Bedrohung war auch in unserem Dorf zu spüren. Menschen waren aus ihrer Heimat geflohen und suchten Zuflucht.
Fremde zu Freunden machen
Wer als Flüchtling nach Deutschland kommt, steht vor einer Menge Herausforderungen. Im Gepäck hat er oft nur wenige Habseligkeiten - dafür aber eine Fülle traumatischer Erfahrungen. Die Kirche möchte diesen Menschen helfen. Katholisch.de gibt einen Überblick über kirchliche Projekte.Ich besuchte eine recht elitäre Grundschule in einem reichen Kölner Stadtteil. Schnell merkte ich den Spott: Zuerst spotteten die Eltern meiner Klassenkameraden über das, was wir taten. Dann witzelten meine Mitschüler: "Nicht, dass eure Ausländer euch am Ende noch das Haus ausräumen." Das schmerzte: Es war ein Angriff auf mich, meine Familie und alles, wofür wir uns einsetzten. Sicher, es war nicht immer leicht mit unserer libanesischen Familie, aber eher hätte ich mir die Zunge abgebissen, als davon zu erzählen.
Sie wollen eine Zukunft für ihre Kinder
Salamas zogen nach einem Jahr in das Haus, das die Gemeinde für sie gefunden hatte, und renovierten es mit vielen Helfern. Auch danach kamen sie noch oft zu meiner Mutter, manchmal ratlos, manchmal verzweifelt. Sie wollten ein Leben in Deutschland, eine Zukunft für ihre Kinder. Doch das Dorf und die Behörden machten es ihnen manchmal schwer. Heute treffe ich ab und zu die erwachsenen Kinder. Sie haben alle eine Ausbildung gemacht und gehen normalen Berufen nach.
Der Balkankrieg hatte auch Folgen für uns. Neue Flüchtlinge kamen. Die Gemeinde brachte sie in einfachen Wohncontainern unter. Die Familien wohnten in einem Zimmer, teilten sich Küche und Bad mit Menschen, die verfeindeten Volksgruppen angehörten. Bosnier, Kroaten, Serben, Albaner – der Hass war unüberbrückbar, aber wo sollten sie hin?
Bevor wir 1993 in den großen Sommerurlaub aufbrachen, boten meine Eltern einer bosnischen Familie an, für vier Wochen in unserem Haus zu wohnen. Als wir zurückkamen, hatten sie das Haus von oben bis unten geputzt. "Jeder Legostein glänzte", staunt meine Mutter noch heute. Sie wollten meine Eltern damit überzeugen, sie dauerhaft bei sich aufzunehmen. Wir Geschwister hatten inzwischen alle ein eigenes Zimmer, mein Vater ein Büro.
Zusammenrücken für die fremde Familie
Als Familie Kenan mit ihren beiden heranwachsenden Kindern bei uns einzog, mussten wir zusammenrücken. Sie bekamen eine eigene Küche, ein Bad, zwei Zimmer. Hof und Garten benutzten wir gemeinsam. Der Junge und das Mädchen waren groß und kräftig, der 14-Jährige hatte schon einen dunklen Schatten auf der Oberlippe; uns Kindern waren sie nicht geheuer. Außerdem konnten wir die Gerüche nicht ausstehen, die den ganzen Tag von ihrem Herd ausgingen. Die Bosnier kochten mit reichlich Öl, warfen einfach Fleisch und Gemüse hinein und aßen auf dem Teppich sitzend, während der Fernseher lief. Meine Mutter hat inzwischen zugegeben, dass der Geruch dieser Speisen ihr schon beim Aufwachen Übelkeit verursachte, aber damals hielt sie unserer Befremdung entgegen: "Stellt euch mal vor, bei uns wäre Krieg und der Papa würde uns plötzlich alle einpacken. Wir würden in ein fremdes Land fliehen, wo wir niemanden kennen und die Sprache nicht verstehen. Stellt euch das vor. Ihr wäret auch froh, wenn ihr bei einer netten Familie wohnen könntet." Dagegen konnten wir nichts sagen. Wir räumten unsere Zimmer und hofften, dass wir Freunde würden.
Aber mit diesen Flüchtlingen war es schwerer. Sie hatten ihre zerstörte Heimatstadt Mostar 1993 verlassen. Nach Deutschland kamen sie mit dem einen Ziel, Geld zu verdienen. Sie wollten zurück, um ihr Haus wieder aufzubauen. Sie hatten kein Interesse daran, Deutsch zu lernen, eine neue Heimat zu finden. Wieder fanden meine Eltern Arbeit für sie. Abida putzte sozialversicherungspflichtig im städtischen Krankenhaus, öffentlicher Dienst.
Die Odyssee von Debina und Sean
Debina und ihre Familie leben in Sri Lanka. Sie gehören zur Minderheit der Tamilen. Als ihr Mann, ein Rebell, verschleppt wird, flieht Debina mit ihrem Sohn. Alle Hoffnung ruht nun auf zwei gefälschten Pässen, die ihnen ein neues Leben in Deutschland ermöglichen sollen.Doch nach einiger Zeit meldete ihr Mann, Demir, sie von dieser Arbeit ab, damit er Sozialhilfe für sie bekam. Gleichzeitig schickte er sie schwarz putzen. Wir bekamen zunächst nichts davon mit. Eines Tages lag Abida weinend vor Schmerzen auf dem Sofa, konnte nicht aufstehen, hielt sich den Bauch. Meine Mutter wollte sie zum Arzt bringen, doch Demir wurde wütend. "Nicht Arzt!" Es wurde schlimmer, die Frau schrie. Es war nicht mitanzusehen. Meine Mutter rief einen befreundeten Internisten an. Nachdem er sie untersucht hatte, rief er sofort den Krankenwagen. Blinddarmdurchbruch. Akute Lebensgefahr. Doch Demir gab keine Ruhe. Noch in der Klinik redete er auf die Ärzte ein, setzte sie unter Druck, wurde beinahe handgreiflich. Wir verstanden: Er fürchtete, die Krankenhausrechnung nicht bezahlen zu können.
"Infiziert von der Kultur des Geldanhäufens"
Ein anderes Mal bat Demir meinen Vater, sein Auto bei dessen Versicherung mitzuversichern. Ein Zweitwagen koste weniger Beitrag. Dann verursachte er einen Unfall und weigerte sich, sowohl den Eigenanteil des Schadens als auch die höhere Versicherung zu zahlen. Mein Vater blieb auf den Kosten sitzen. Da ging meine Mutter in den Flüchtlingscontainer und bat dort um Hilfe.
Mehrere Männer, Asylbewerber wie unsere Kenans, forderten Demir auf, zur Vernunft zu kommen. Das machte Eindruck. Und bei uns ein gutes Gefühl: Wir hatten eine Solidarität der Flüchtlinge mit uns gespürt. Wollten die Kenans uns nur ausnutzen? Das fragten uns viele. Mein Vater aber sieht auch Jahre später die Schuld nicht bei Familie Kenan. "Sie wurden infiziert von der Kultur des Geldanhäufens. Die Gier hat sie so gemacht", sagt er.
Besonders meine Mutter tat sich mit der patriarchalischen Struktur dieser Familie schwer. Als emanzipierte, moderne Frau war es für sie schmerzlich, zu sehen, dass der Bruder seine Schwester vor unseren Augen schlug und die Eltern das guthießen. Im Auto saßen die Männer vorn, Mutter und Tochter wurden auf die Rückbank verbannt. Für Abida hingegen war es unerträglich, dass ich, das einzige Mädchen unserer Familie, nicht mehr zu Haushaltsarbeiten herangezogen wurde. Stattdessen spielte ich mit Puppen. Sie beklagte sich bitter darüber bei meiner Mutter.
"Warum habt ihr sie nicht vor die Tür gesetzt?", frage ich heute. "Am Anfang war es schön", erzählt mein Vater. "Sie haben uns zum Essen eingeladen, wir haben Abende zusammen verbracht." "Abida hat mir ein Goldkettchen geschenkt", sagt meine Mutter. "Einfach so. Vielleicht aus Dankbarkeit." Und ich weiß noch, dass Demir großes handwerkliches Geschick besaß. Ständig reparierte er Dinge am Haus. Seine Spuren sind noch heute sichtbar. Nicht immer fragte er erst, bevor er sich nützlich machte. Einmal nahm er ein Paar unserer Schuhe aus dem Regal, die offensichtlich einen maroden Eindruck auf ihn machten. Er nagelte die Sohlen gründlich fest und präsentierte uns stolz das Ergebnis. Die Schuhe waren anderthalb Größen kleiner geworden.
Sehnsucht nach der Heimat
Dann malte der stolze Bosnier ein Bild von der Alten Brücke in Mostar, dem Wahrzeichen der Stadt. Im 16.? Jahrhundert erbaut, Symbol der Verbindung zwischen Ost und West. Kurz nach der Flucht der Familie war sie zerstört worden. Das Bild leuchtete in satten Ölfarben. Vielleicht war es ein wenig kitschig, aber es zeigte eindrucksvoll die Sehnsucht, das Heimweh des Mannes. Es war eine große Geste, als er uns sein Bild schenkte. Wir ließen es lange an der Wand hängen.
Meine Eltern holten 1994 sogar noch die Großeltern nach und verbürgten sich bei der Ausländerbehörde für sie. Schließlich wohnten sechs Kenans bei uns. Der Großvater hatte nur ein Bein und kaum noch Zähne. Wir Kinder gruselten uns ein bisschen. Mit dem Zuzug der beiden setzte mein Vater die Miete von 450 auf 500 Mark hoch. Demir weigerte sich zu zahlen. Drei Jahre blieben sie; sie stritten oft und laut, auch mit Gewalt. Wir trennten uns in Unfrieden.
1997 trat das Dubliner Abkommen in Kraft, nach dem Flüchtlinge nur in dem Land einen Asylantrag stellen dürfen, in dem sie EU-Boden betreten. Für viele Jahre schien es, dass die Welt plötzlich frei war von Konflikten und Kriegen. Wir sahen keinen Flüchtling mehr. Die Container wurden abgebaut, der Arbeitskreis Asyl legte seine Arbeit nieder.
„Flüchtlinge sind keine stillen Untermieter. Sie brauchen jeden Tag Hilfe.“
Aber im Fernsehen sahen wir, dass Menschen versuchten, mit Booten übers Mittelmeer nach Europa zu kommen, und dabei oft zu Hunderten ertranken. Wir sahen Papst Franziskus, wie er auf Lampedusa die Welt anklagte. Er sehe eine "Globalisierung der Gleichgültigkeit". Wir sahen Leute, die die Islamisierung des Abendlandes befürchteten und dafür jeden Montag mit finsteren Gesichtern "spazieren gingen". Flüchtlingsheime brannten, rassistisches Gedankengut wurde in Talkshows zur Primetime verbreitet.
Wieder keine andere Wahl
Meine Eltern waren alarmiert. Wieder hatten sie keine Wahl. Im Frühjahr 2015 nahmen sie eine Frau und einen Mann aus Eritrea auf. Die beiden waren zu Fuß bis nach Libyen gelangt, von dort kamen sie mit einem Schlepperboot nach Sizilien, wo sie ein Jahr in einem Auffanglager verbracht hatten. Jetzt teilen sie sich das große Haus mit meinen Eltern. Sie lernen voller Eifer Deutsch und wollen unbedingt arbeiten. Noch ist es schwer, mit ihnen zu sprechen. Doch wir konnten erfahren, dass der junge Mann in seinem Heimatland zwei Jahre ohne Anklage in Einzelhaft saß, dass er eine kleine Tochter zurückgelassen hat, der er die Flucht nicht zumuten wollte.
Jede Nacht versucht er telefonischen Kontakt zu Verwandten aufzunehmen, die noch in Libyen festsitzen und versuchen, genug Geld für die Schlepper zusammenzubekommen.
Die beiden Flüchtlinge sind traumatisiert, entwurzelt, einsam und perspektivlos – wie so viele andere. Meine Eltern mobilisieren die ganze Gemeinde, um auf diese Schicksale aufmerksam zu machen. Vor allem aber wollen sie, dass mehr Menschen bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Es gibt einen Flyer der Kirche, "Neue Nachbarn" heißt die Aktion. Er wurde 5000-mal verteilt, aber niemand hat bei uns im Dorf darauf reagiert.
"Die Privatheit ihrer Häuser sind ihnen ein höheres Gut als Nächstenliebe", sagt mein Vater resigniert. Für ihn ist Gastfreundschaft eine menschliche – noch nicht einmal christliche – Pflicht. "Es ist nicht romantisch, Flüchtlinge aufzunehmen. Manchmal zahlt man einen hohen Preis. Aber es ist eben das, was zu tun ist." Wenn er Werbung machen will, sagt er, dass man als Gastgeber auch interessante Menschen und fremde Kulturen kennenlernt. Das stimmt. Letztes Wochenende haben meine Eltern ihre Gäste in die eritreische Gemeinde in Köln begleitet. Sie wurden Zeugen eines lebendigen, bewegenden Gottesdienstes.
Themenseite: Auf der Flucht
Ob Armut, Terror oder Naturkatastrophen: Täglich verlassen Menschen ihr Heimatland, um woanders ein neues, ein besseres Leben zu beginnen. Die Flüchtlinge kommen auch nach Deutschland. Das bedeutet eine große Herausforderung für Politik, Gesellschaft und Kirche.Flüchtlinge sind keine stillen Untermieter. Sie brauchen jeden Tag Hilfe, anfangs bei den trivialsten Dingen. Wo ist der Supermarkt? Wie frage ich nach dem Weg zum Bahnhof? Und vor allem: Was bedeutet dieser Brief von der Behörde? Offizielle Schreiben machen den beiden Eritreern Angst. Werden sie abgeschoben? Müssen sie bestimmte Fristen beachten, Formulare einreichen? Ihre Existenz ist von Unsicherheit bedroht. Sie brauchen Menschen, die ihnen Sicherheit geben. Die ihnen erklären, wie die Dinge heißen, die sie sehen.
Willkommen, egal wer kommt
Nach dem Besuch des Papstes auf Lampedusa gab es viel Solidarität. Auch nach den Aufrufen meiner Eltern boten viele ihre Unterstützung an. Basare wurden organisiert, Kuchen verkauft, Kleidung und Spielsachen gesammelt. Aber den letzten Schritt wie meine Eltern gehen die anderen im Ort nicht. "In unserem Haus ist kein Platz", sagen sie. Meinen Vater macht das wütend.
In letzter Zeit ist oft von Willkommenskultur die Rede. Willkommen heißt für meine Eltern Gastfreundschaft, in ihrem eigenen Haus. Egal, wer kommt.
Ich bewundere das, was meine Eltern tun. Bin ich bereit, dasselbe zu tun? Unser Haus reicht gerade für unsere Familie. Für Gäste können wir vorübergehend mal ein Zimmer räumen oder eine Matratze ins Wohnzimmer legen. Aber dauerhaft Flüchtlinge aufnehmen – das geht nicht. Ganz offensichtlich. Vielleicht bin ich sogar froh darüber. Ein beschämender Gedanke.
*Alle Namen wurden geändert