Gott und die Quantenphysik
Frage: Herr Grün, Sie und Ihr Bruder, der Benediktinerpater Anselm Grün, haben dem Verhältnis von Religion und Physik ein gemeinsames Buch gewidmet. Wie ist dieses Projekt entstanden?
Grün: Im Januar 2014 hielt ich in der Pfarrgemeinde Aichach einen Vortrag zum Thema "Physik und Religion" – mit der Kernaussage: Die Physik leugnet nicht, dass es jenseits des mit Sinnesorganen und Messgeräten Wahrgenommenen noch mehr gibt. Der Vier-Türme-Verlag interessierte sich für diesen Vortrag und bot mir an, ihn in Buchform zu veröffentlichen. Nach Rücksprache mit meinem Bruder entstand die Idee eines gemeinsamen Projektes. Der erste Teil des Buches enthält meinen Vortrag über Physik und Religion, der zweite die theologischen Reflexionen meines Bruders zu diesem Thema.
Frage: Hatte Ihr Bruder, der Benediktinerpater Anselm, nicht eine gewisse Berührungsangst, wie sie oft zwischen Theologen und Physikern besteht?
Grün: Nein, im Gegenteil. Mein Bruder sieht, dass Physik und Religion als zwei komplementäre Sichtweisen auf eine tiefere Wahrheit betrachtet werden können, die wir Menschen niemals ganz zu erkennen in der Lage sind. Und dass beide Richtungen – jede auf ihre Art – dem Menschen bei der Lebensbewältigung hilfreich sein können.
Frage: Lange Zeit kamen Physik und Religion auf keinen gemeinsamen Nenner. Dies änderte sich mit der so genannten Urknall-Theorie. Welche Rolle spielt Gott dabei als Schöpfer der Welt?
Grün: Nach jetziger Erkenntnis wurde vor 13,8 Milliarden Jahren durch etwas Explosionsartiges, das man heute Urknall nennt, alles auseinandergetrieben. Dieser Urknall wird von vielen als Schöpfung gesehen – ausgelöst durch etwas, das viele Gott nennen, der damit in der Physik wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. Die Kirche stimmte dieser neuen physikalischen Erkenntnis zu. Im Jahr 1952 erklärte Papst Pius XII., die Urknalltheorie befinde sich in tiefer Harmonie mit dem christlichen Dogma und untermauere die Existenz eines Schöpfers.
Frage: Erkennt die Physik denn auch einen Zusammenhang zwischen den Naturgesetzen, dem Kosmos und der menschlichen Existenz?
Grün: Ja. Ich will versuchen, dies zu erklären: Wir benutzen für unsere physikalischen Gesetze 37 Parameter beziehungsweise Konstanten, deren Größe wir sehr genau gemessen haben, die wir aber nicht aus anderen Gesetzen ableiten können. Wenn nur eine einzige dieser Größen ganz geringfügig anders wäre, hätte es niemals zu dieser Welt mit uns Menschen kommen können. Diese Erkenntnis hat seit etwa 1975 viele Physiker zu Anhängern des "Anthropischen Prinzips" werden lassen. In der strengsten Form besagt es: Hinter der Schöpfung muss eine Idee stehen, in der die Existenz des Menschen eine Rolle spielt. Wer sich mit der Kosmologie, also der Lehre von der Welt, beschäftigt, kann nicht anders, als sich staunend und ehrfürchtig vor dem zu verneigen, der das Weltall geschaffen hat.
Frage: Es gibt Physiker, die behaupten, das Weltall sei aufgrund der physikalischen Gesetze zwangsläufig entstanden. Wie argumentieren Sie, wenn Sie mit solchen Meinungen konfrontiert werden?
Grün: Wenn dies tatsächlich so sein sollte, taucht irgendwann zwangsläufig die Frage auf, wer denn diese Gesetze so aufgestellt hat. Dass sie zufällig entstanden sind, ist von der Wahrscheinlichkeit und Logik her so gut wie ausgeschlossen.
Frage: Welches sind die wirklichen revolutionären Erkenntnisse im Verhältnis zwischen Physik und Religion?
Grün: Ein Umdenken fand schon im Rahmen der Relativitätstheorien statt. Die klassische Physik hatte einen anderen Zeitbegriff als die moderne. Sie behauptete, dass die Zeit von sich aus fließt – gleichförmig, ohne Rücksicht auf äußere Dinge. Die moderne Relativitätstheorie lehrt genau das Gegenteil – nämlich, dass die Zeit keine konstante Größe ist. Diese Relativität der Zeit hat Konsequenzen für ein mögliches Gottesverständnis: Wenn Gott ein reines Geistwesen ist – nicht gebunden an Materie -, wird für ihn die Zeit ganz anders verlaufen als für uns. Die Relativitätstheorie macht vor allem auch die Frage nach der Zeit vor dem Urknall müßig, da die Zeit ja erst mit dem Urknall entstand. Gott hat mit der Welt zugleich die Zeit erschaffen, und er ist nicht der Zeit unterworfen.
Frage: Noch nachhaltiger als die Relativitätstheorie hat die Quantenphysik das Verhältnis von Physik und Religion verändert. Können Sie diese beschreiben?
Grün: Die Quantenphysik beschreibt den Zusammenhang allen Seins. Für uns Menschen heißt das: Wir können uns im Kosmos nicht als isolierte Wesen verstehen, denn wir haben immer schon teil an der gesamten Materie, an der ganzen Welt. Was an einem Ort geschieht, hat Auswirkungen auf die ganze übrige Welt. Mein Bruder schließt aus diesem Zusammenhang heraus etwa, dass das Leben Jesu eine Wirkung auf die ganze Welt hat. Das zeigt den Weg, wie wir die Erlösung durch Jesus Christus heute verstehen können: Was Jesus damals getan hat, wirkt sich bis heute auf uns Menschen aus.
Frage: Welche neuen Erkenntnisse stammen aus der Quantenphysik?
Grün: Zum Beispiel, dass es den strengen Determinismus nicht gibt, aber auch, dass die Dinge nicht so primitiv, seelenlos und lokal beschränkt sind, wie die klassische Physik es propagierte. Kein Teilchen ist isoliert – im Gegenteil: Ein jedes hat "Ahnung" von der ganzen Umgebung, ja von der ganzen Welt. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr drückte es einmal so aus: "Der individuelle Mensch ist mit dem ganzen Kosmos verbunden." Diese Vorstellungen teilten immer schon Religionen. Das Wort des bedeutenden hinduistischen Gelehrten Shankara "Die Einzelseele ist eins mit der Weltseele" trifft die Aussage Dürrs exakt. Auch in der christlichen Mystik und in vielen Mönchsorden ist diese Sichtweise zu finden. So kann auch mein Gebet, durch das ich mich selbst ändere – physikalisch betrachtet, indem sich meine Wellenfunktion ändert -, auf andere Menschen wirken.
Frage: Religion und moderne Physik widersprechen sich also nicht. Welche Aufgabe haben in diesem Zusammenhang nun die Religionen?
Grün: Es ist Aufgabe der Religionen, die menschliche Existenz im unvorstellbar großen, geheimnisvollen, Angst einflößenden Kosmos zu verorten, für den Menschen einen Platz im kosmischen Geschehen zu finden und ihm Sicherheit zu geben.
Frage: Welchen Verdienst schreiben Sie der Physik in diesem Zusammenhang zu?
Grün: Die moderne Physik hat die Jahrhunderte währende Gegnerschaft zwischen Religion und Physik beseitigt. Sie ist überzeugt von der Existenz von Transzendentem. Sie lehrt uns Demut, lässt uns erahnen oder auch zur Gewissheit werden, dass hinter der Welt etwas ganz Großartiges stecken muss, das die meisten Gott nennen. Werner Heisenberg, einer der genialsten Physiker des 20. Jahrhunderts, beschreibt die Erfahrung vieler großer Physiker der Moderne sehr anschaulich: "Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, doch auf dem Boden des Bechers erscheint dann Gott."