Vorwürfe gegen Abbé Pierre anscheinend seit 1950ern im Vatikan bekannt
Der Vatikan und die französischen Bischöfe sollen bereits 1955 von Missbrauchsvorwürfen gegen den französischen Armenpriester Abbé Pierre (1912-2007) gewusst haben. Das geht aus dem Buch "Abbé Pierre: la fabrique d'un saint" ("Abbé Pierre: Ein Heiliger wird gemacht") der beiden Investigativjournalistinnen Laetitia Cherel und Marie-France Etchegoin hervor, das am Donnerstag veröffentlicht wurde. Die Autorinnen stützen ihre Erkenntnisse auf Archivdokumente des Glaubensdikasteriums, die sie einsehen konnten. "Seit Herbst 1955 kannte nicht nur der hohe französische Klerus die dunkle Seite und die Gefährlichkeit von Abbé Pierre, sondern auch der Heilige Stuhl", heißt es in dem Buch. Ein Verfahren vor dem Heiligen Offizium, dem heutigen Glaubensdikasterium, sei zwar begonnen worden, 1957 aber auf Druck der französischen Bischöfe eingestellt worden.
Die Französische Bischofskonferenz begrüßte am Donnerstag die Recherche und betonte, dass sie im vergangenen Jahr das Nationalarchiv der katholischen Kirche in Frankreich geöffnet habe, um die Wahrheit so weit wie möglich ans Licht zu bringen. Ohne die Freigabe wären die Dokumente erst 75 Jahre nach dem Tod Abbé Pierres – also 2082 – einsehbar gewesen. Die neuen Erkenntnisse müssten weiter untersucht werden, "um zu verstehen, was geschehen ist und wie sich die französischen Bischöfe, die in den 1950er Jahren in der ehemaligen ACA (der Versammlung der Kardinäle und Erzbischöfe, der Vorgängerin der Französischen Bischofskonferenz) Verantwortung trugen, verhalten haben." Zu klären sei auch, wie die Vorwürfe in Vergessenheit geraten konnten und warum sie anscheinend in den 1970er Jahren aus dem Nationalarchiv verschwinden konnten.
Zehnseitiges Vatikan-Protokoll dokumentiert bekannte Vorwürfe
Cherel und Etchegoin stützen sich auf ein zehnseitiges Protokoll des Heiligen Offiziums aus dem März 1957, in dem eine Chronologie der Vorwürfe sexualisierter Gewalt durch Abbé Pierre seit 1955 sowie Warnungen aus den USA und Kanada vor dem Geistlichen enthalten seien. Der Erzbischof von Montreal habe nach einem Besuch Abbé Pierres im Mai 1955 "Anschuldigungen wegen Unmoral" mitgeteilt bekommen, auch in den USA habe er "unmoralische Dinge" getan. Ebenfalls 1955 habe das Offizium den Nuntius in Frankreich angewiesen, den Fall genau zu folgen.
Der Armenpriester Abbé Pierre war zu Lebzeiten einer der beliebtesten Franzosen. Sein Name stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als er in der Résistance Widerstand gegen die deutschen Besatzer leistete. 1949 hatte er die Emmaus-Gemeinschaft gegründet. Sie setzt sich heute mit Hilfe zur Selbsthilfe in knapp 40 Ländern weltweit gegen Armut und Obdachlosigkeit ein. Die Gemeinschaft distanziert sich mittlerweile von ihrem Gründer und arbeitet an der Aufarbeitung mit.
Im vergangenen Juli wurden erste Vorwürfe gegen Abbé Pierre bekannt, im Laufe des Jahres kamen weitere Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Minderjährige ans Licht. Der damalige Vorsitzende der Französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort, musste einräumen, dass einzelne Bischöfe schon seit den 1950ern von Vorwürfen wussten. (fxn)