Julia Klöckner spielt Symbolik gegen Sichtbarkeit aus
Keine Regenbogenflagge über dem Reichstag zum Christopher-Street-Day. Das entschied Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) und argumentierte: "Dann müsste ich auch an einem Tag im Jahr zum Beispiel die Vatikanflagge hissen." Frau Klöckner bezog sich dabei auf die große Zahl verfolgter Christ*innen in aller Welt: Das christliche Hilfswerk Kirche in Not meldete, dass sich die Lage für verfolgte Christ*innen weltweit verschlechtert hat.
Es geht nicht um die Menschen
Tatsächlich verdient das Schicksal verfolgter Christ*innen Aufmerksamkeit. So gesehen ist es eine willkommene Solidaritätsbekundung, wenn die Bundestagspräsidentin auf die prekäre Situation der Betroffenen aufmerksam macht. Doch was folgt nun daraus? Werden mit Julia Klöckners Vorstoß nun die diplomatischen und humanitären Bemühungen intensiviert, um dieser Ungerechtigkeit etwas entgegenzusetzen? Wird die Situation von 2021 nochmals untersucht, als die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen und laut Open-Doors-Bericht 2022 dann Afghanistan das Land war, in dem Christ*innen am stärksten und schlimmsten für ihren Glauben verfolgt wurden – ob die Hilfen und Fluchtmöglichkeiten der Bundesrepublik ausreichend waren?
Die Antwort lautet: wahrscheinlich nicht – zumindest drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man bedenkt, dass die CDU erst im Februar dieses Jahres einen Charterflug des Bundesaufnahmeprogramms für "besonders gefährdete Personen" aus Afghanistan scharf kritisiert hat, offenbar ungeachtet dessen, ob bei diesem Flug vielleicht auch verfolgte Christ*innen dabei waren oder nicht. Julia Klöckner war an dieser Kritik zwar nicht direkt beteiligt, doch sie gehört derselben Partei an, deren ablehnende Haltung gegenüber konkreten Schutzmaßnahmen dem eigenen Solidaritätsanspruch widerspricht. Das Argument der Christenverfolgung in der Causa Regenbogenflagge wirkt damit ohne politische Konsequenz ziemlich schwach, wenn es einem wirklich um die Menschen ginge.
Leid kann anderes Leid nicht aufwiegen
Denn mal davon abgesehen, dass das verbindende Symbol der Christenheit nicht die Vatikanflagge, sondern das Kreuz ist – und dieses bereits im Bundestag präsent ist –, stellt sich eine grundlegendere Frage: Selbst, wenn es Klöckner tatsächlich um religiöse Symbolik ginge, wäre die Vatikanflagge kein angemessener Vergleich zur Regenbogenflagge. Das Leid verfolgter Christ*innen als politisches Gegenargument zu queerer Sichtbarkeit zu verwenden, verkehrt ein ernstes Thema in ein politisches Manöver. Die Bundestagspräsidentin benutzt damit das Leid der einen, um die Sichtbarkeit der anderen zu beschneiden – und spielt so zwei weltweit marginalisierte Gruppen gegeneinander aus. Denn unabhängig davon, wie man zur LGBTQAI+-Community und Pride-Paraden steht, erfahren queere Menschen Diskriminierung, auf die beim Christopher-Street-Day auch aufmerksam gemacht werden soll – etwas, was laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein Großteil der Deutschen übrigens wahrnimmt und darüber hinaus auch queere Lebensformen befürwortet. Die Frage, warum beide Gruppen nicht die angemessene Aufmerksamkeit erhalten können, bleibt am Ende unbeantwortet.
Die Autorin
Julia Grimm ist Social-Media-Redakteurin bei katholisch.de.
Hinweis
Der Kommentar spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin wider.