Friedhelm Hengsbach über Lösungen gegen den Zeitdruck im Westen

Wider die Tyrannei der Beschleunigung

Veröffentlicht am 19.09.2015 um 00:01 Uhr – Von Stefan Buchholz (KNA) – Lesedauer: 
Gesellschaft

Osnabrück ‐ Ende des Monats wird Osnabrücks Bischof Franz-Josef Bode ein "Jahr des Aufatmens" für seine Diözese eröffnen. Im Vorfeld dazu referierte der Jesuit und Gesellschaftsethiker Friedhelm Hengsbach, wie der Mensch wieder Herr seiner Zeit werden kann.

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Ständige Erreichbarkeit am Handy, Rufbereitschaft für immer mehr Arbeitnehmer und die Ausweitung von Samstags- und Sonntagsarbeit: Für Hengsbach sind das die typischen Merkmale einer "Tyrannei der Beschleunigung". Sie greife rapide um sich und erfasse alle Lebensbereiche. Nichts bleibt davon verschont, zählte der Ordensmann auf. "Beethoven hat die 'Eroica' als ein 60-minütiges Werk komponiert, heute wird sie schon um 20 Minuten schneller gespielt."

Durchschnittlich 42 Arbeitsstunden pro Woche

Doch was hat bei den Menschen im Westen zur allgemeinen Atemlosigkeit geführt? Hengsbachs Hypothese: Die informationsgestützten Finanzmärkte hätten einen Beschleunigungsdruck ausgelöst, der nach und nach börsennotierte Unternehmen, die Entscheidungsprozesse der Staaten, die Arbeitsverhältnisse und die Privatsphäre erfasst habe.

Friedhelm Hengsbach SJ
Bild: ©KNA

Friedhelm Hengsbach SJ

Auf den Aktienmärkten vertretene Unternehmen seien nur auf kurzfristige Erfolgszahlen fixiert, lautete Hengsbachs Analyse. "Und von den Regierenden wurden bis vor kurzem die Finanzmärkte als fünfte Gewalt einer 'marktkonformen' Demokratie akzeptiert". Weil die Politik auf die Stimmen der Finanzmarktakteure gehört habe, hätten sich zudem die Entscheidungsprozesse beschleunigt. Das führte etwa zu entregelten Arbeitsverhältnissen, meinte Hengsbach. "Befristete und Leiharbeitsverträge, prekäre und niedrig entlohnte Beschäftigungen haben zugenommen. Die durchschnittliche Arbeitszeit der Vollzeiterwerbstätigen liegt heute bei 42 Wochenstunden."

Video: © Bistum Osnabrück/youtube.com

Osnabrücks Bischof Franz-Josef Bode lädt zum Jahr des Aufatmens ein.

Wie aber diesem scheinbaren Teufelskreis entrinnen? "Es gibt keine strukturellen Änderungen in Gesellschaften, solange Menschen nicht aufstehen und sagen: Wir machen nicht mehr mit", sagte Hengsbach. Aber: Nur die "innere Bekehrung", die persönliche Weigerung, sich Eigenzeit zurück zu erobern, reiche nicht, meinte der Jesuit. Reines Nichtstun, Muße und zweckfreie Meditation seien zwar erste Schritte hin zu mehr Zeitautonomie. Hinzu müsse aber die "Rückkehr zu bewährten Verfahren" kommen. Es bedürfe etwa einer strengen Regulierung der Finanzmärkte und der Mitbestimmung im Unternehmen.

Jahr des Aufatmens

Ebenso brauche es wieder flächendeckende Tarifverträge und eine Entschleunigung möglich machende radikale Verkürzung der Vollerwerbsarbeitszeit, forderte der Wissenschaftler. Dazu müsste es erstens eine Entlastung der Frauen von unbezahlter Arbeit in der Privatsphäre geben. Weiter plädierte er für eine "Halbtagsgesellschaft". Dafür brauche es faire Umverteilung der "gesellschaftlich nützlichen Arbeit" auf die in unfreiwilliger Teilzeit, befristet oder prekär Beschäftigten sowie der Arbeitslosen. "Das führt zu einer 30-Wochenstundenarbeitszeit für jeden. Ohne dass der Lebensstandard sinken müsste", rechnete Hengsbach vor. Dieses Modell würde den Zeitdruck von den Menschen nehmen.

Information

Pater Hengsbach hielt den Vortrag am 7. September im Forum am Dom im Vorfeld des "Jahr des Aufatmens", das Bischof Franz-Josef Bode Ende September im Bistum Osnabrück eröffnen wird. In diesem Zeitraum soll es in allen Bereichen der Diözese darum gehen, innezuhalten und bisherige Wege zu überdenken.
Von Stefan Buchholz (KNA)