Kirchenmusiker müssten lernen, wie man Kinder unterrichtet

Pädagogin ist überzeugt: "Kinder gehören an die Orgel"

Veröffentlicht am 09.08.2025 um 12:00 Uhr – Von Beate Kampen – Lesedauer: 

Mainz ‐ Kinder an der "Königin der Instrumente" mag für viele ungewohnt sein – nicht aber für Orgelpädagogin Carolin Kaiser. Auf dem deutschlandweit ersten Orgelfestival für Kinder zeigt sie, wie man das besondere Instrument altersgerecht vermittelt.

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Carolin Kaiser steht hinter dem Spieltisch der Orgel in der Mainzer Kirche St. Peter. Vor ihr auf der langen Holzbank sitzen drei Organistinnen im Alter von neun bis elf Jahren vor den Tasten. "In unserer Geschichte rollt eine Murmel in einen Wald und ein Kind läuft hinterher", erklärt die elfjährige Organistin. Ohne ein Notenblatt spielt sie eine passende Melodie zu Situationen aus ihrer Geschichte: Kurze Töne, die leise höher und tiefer werden, sollen die rollende Murmel untermalen, dumpfe, dunkle Töne im Staccato-Stil die schnellen Schritte des Kindes. Kaiser lächelt. Die Orgelpädagogin hat wieder jemanden für ihr Instrument begeistert.

Es ist Samstagvormittag in der Barockkirche, Touristen bleiben unten im Kirchenschiff stehen und schauen neugierig hoch. Auf der Empore sitzen 15 Kinder in kleinen Gruppen, gebeugt über einen Zettel. Sie schreiben gerade eine "Klanggeschichte". Die 31-jährige Carolin Kaiser leitet diesen Workshop und bittet die Gruppen nacheinander auf, ihre Ergebnisse den anderen Kindern und einigen Eltern vorzuspielen.

An der großen Orgel in der Kirche St. Peter in Mainz sind an diesem Tag die Organistinnen und Organisten Kinder.
Bild: ©katholisch.de/bak

An der großen Orgel in der Kirche St. Peter in Mainz sind an diesem Tag die Organistinnen und Organisten Kinder.

Dieser besondere Orgelunterricht findet im Rahmen des deutschlandweit ersten Orgelfestivals für Kinder statt. Auf die Frage, ob Kinder überhaupt an ein so großes Instrument wie die Orgel passen, hat die Workshopleitung eine sehr klare Antwort: "Die Orgel ist das perfekte Instrument für Kinder". Man spiele sie mit Händen und Füßen, sie sei laut und leise, könne wie zig verschiedene Instrumente klingen und sogar von innen betreten werden. "Es ist ziemlich einfach, Kinder von einer Orgel zu begeistern", erklärt die studierte Orgelpädagogin, die das Festival initiiert hat.

Sie selbst lernte als Kind von ihrer Großmutter die ersten Stücke auf der Orgel. Doch dass Kinder an der "Königin der Instrumente" musizieren, ist in den meisten Fällen eine Ausnahme. "Klassischerweise fangen 15- oder 16-jährige, die schon einige Jahre Klavierunterricht hatten, mit dem Orgelspielen an", erklärt Kaiser. Die Mutter eines Festivalteilnehmers erzählt, dass sie ein Dreivierteljahr nach Orgelunterricht für ihren neunjährigen Sohn Mattheo gesucht hat. "Viele Kirchenmusiker wissen einfach nicht, wie man Kindern das Orgelspielen beibringt", erklärt Kaiser. Anstatt den Unterricht auszuprobieren, werde dann häufig auf das Klavier verwiesen. Das könne man ja erst lernen. Im Falle von Mattheo war das aber keine Alternative. Der Neunjährige trägt stolz sein T-Shirt mit einem Orgelaufdruck und der Aufschrift: "Ich ziehe heute alle Register".

Bei ihm kam die Faszination für die Orgel auf dem klassischen Wege durch Gottesdienstbesuche mit der Familie. "Aber solche Fälle werden immer seltener", sagt Kaiser. Zwei andere Teilnehmerinnen berichten, dass sie durch eine Projektwoche in der Schule zur Orgel kamen. Dort haben sie das Instrument von der musikalischen und technischen Seite kennengelernt. Am Ende der Woche wurde gefragt, wer Lust habe, mit dem Unterricht anzufangen. Die beiden, neun und elf Jahre alt, meldeten sich – und blieben dabei. "Solche Projekte gibt es immer häufiger", erklärt Kaiser. Mal gehen Kirchengemeinden auf Schulen zu, mal umgekehrt. "Das Schwierige ist, die Kinder nach diesem ersten Kennenlernen in den regelmäßigen Unterricht zu holen."

Dem Interesse an der Orgel stehen oft Hürden im Weg

Denn Orgelspielen sei aufwendiger als etwa Blockflöte oder Gitarre. "Das Instrument steht nicht zuhause. Eltern müssen ihre Kinder immer zum Üben fahren, wenn die Kirche nicht gerade um die Ecke ist", sagt Kaiser. Aus ihrer Erfahrung stammen die meisten jungen Organistinnen und Organisten auch deswegen aus Akademikerfamilien, in denen die Eltern die Ressourcen haben, das Hobby zu unterstützen.

Aber auch die Kirchen spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, wer Orgel spielt und wer nicht, so Kaiser. Lange ging es im Orgelunterricht vor allem darum, Gottesdienste musikalisch zu begleiten. Das sei für viele Orgelinteressierte heute weniger eine Motivation. Viele kommen zu dem Instrument, weil sie sich für die Vielfalt an Klängen und die komplexe Technik dahinter interessieren. In Kaisers Unterricht erklingen deshalb auch Pop- und Filmmusik. Dadurch, dass die meisten Orgeln aber in Kirchen stehen, müssen bei einer Neuausrichtung des Orgelunterrichts Kirchen mit ins Boot geholt werden.

Das sei aber häufig gar nicht so einfach. Wenn Kaiser mit neuen Ideen der Orgeldidaktik auf Kirchenmusiker zugeht, fehlt häufig eine Offenheit für Veränderung. "Viele interessieren sich für die pädagogischen Aspekte überhaupt nicht." Kaiser sieht darin eine verpasste Chance für die Kirchen, die so händeringend nach Orgelnachwuchs suchen. "Es gibt Studien, die zeigen: Je früher Kinder mit einem Instrument anfangen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie das Instrument auch langfristig spielen." Von einer frühen Bindung an die Orgel würden die Kirchen stark profitieren. Auf dem Festival will Kaiser deswegen auch den anwesenden Kirchenmusikern ihre neu entwickelten Konzepte zeigen, die das Orgelspielen kindgerecht vermitteln.  

Carolin Kaiser hat das Festvial "3-2-1:Orgel", das vom 1. bis 3. August in Mainz stattfand, initiiert.
Bild: ©katholisch.de/bak

Carolin Kaiser hat das Festvial "3-2-1:Orgel", das vom 1. bis 3. August in Mainz stattfand, initiiert.

Doch was läuft in Kaisers Unterricht anders als im klassischen Orgelunterricht? Weil die Konzentrationsfähigkeit von Kindern nun mal geringer ist, setzt die 31-Jährige vor allem auf eine große Methodenvielfalt. Sie lässt zu einem Stück auch mal einen Tanz einstudieren oder spielt mit mehreren Kindern gleichzeitig auf der Orgel. Besonders wichtig ist für sie das Improvisieren: "Kinder sind darin viel besser als Erwachsene – sie spielen gerne einfach drauflos", sagt Kaiser.

Wenn an einem Tag mal gar keine Lust aufs Spielen da ist, weicht sie auf die Techniklehre aus. Dann wird die Orgel von innen erkundet, es wird ausprobiert, wie Luft durch die Pfeifen strömt oder wie Register den Klang verändern. Manchmal braucht es aber auch ganz praktische Innovationen. Für kurze Beine, die nicht an die Fußpedale kommen, hat Kaiser ein Hilfsmittel aus Holz gebaut. Schmale Holzkästen werden auf jedes einzelne Pedal gesteckt, sodass auch die Kinder mit ihren Füßen spielen können.

„Anstatt hochkarätige Organisten für Konzerte einzuladen, sollte lieber Geld in die Ausbildung gesteckt werden.“

—  Zitat: Carolin Kaiser

Doch damit solche Ideen nicht allein an engagierten Einzelpersonen hängen bleiben, braucht es auch von den Kirchen Unterstützung. "Anstatt hochkarätige Organisten für Konzerte einzuladen, sollte lieber Geld in die Ausbildung gesteckt werden", sagt Kaiser. Außerdem bräuchten pädagogische Inhalte im Orgelstudium mehr Platz. "Aktuell sind dafür meistens zwei Wochenstunden für zwei Semester eingeplant – das reicht nicht, um Kinder erfolgreich zu unterrichten."

In der Mainzer Kirche spielt die letzte Gruppe ihre Klanggeschichte vor, während einige Touristen unten im Kirchenschiff mit skeptischem Blick zuhören. Oben auf der Empore fällt in einer Klanggeschichte eine Kugel Eis zu Boden. Düstere, laute Töne strömen durch die Kirche und lassen die Stühle vibrieren. Der zehnjährige Organist scheint selbst überrascht von der Wucht des Instruments und schaut erstaunt auf seine Finger – das war gerade er, der die Kirche zum Beben brachte.  

Von Beate Kampen