Experte: Newman ist Begleiter einer Kirche in einem großen Prozess
Konvertit, Kardinal, Heiliger – und bald Kirchenlehrer: Papst Leo XIV. kündigte vor Kurzem an, John Henry Newman (1801-1890) diesen Titel verleihen zu wollen. Newman war zunächst Priester der anglikanischen Kirche und trat 1845 in die katholische Kirche über. Er gilt als einer der bedeutendsten Theologen des 19. Jahrhunderts und bereitete der Theologie den Weg in die Moderne. Einer, der sich intensiv mit Newmans Theologie und Wirkungsgeschichte befasst, ist Roman Siebenrock. Der emeritierte Innsbrucker Dogmatiker ist Vorsitzender der Internationalen Deutschen Newman-Gesellschaft. Er ordnet im Interview die Ernennung Newmans zum Kirchenlehrer ein – und erklärt, wie dieser Menschen unterschiedlicher Anschauungen in der Kirche zusammenbringen kann.
Frage: Herr Siebenrock, wie lange haben Sie die Entscheidung herbeigesehnt, dass John Henry Newman zum Kirchenlehrer ernannt wird?
Siebenrock: Dass Newman eine große Bedeutung hat, ist für die deutsche Rezeption seit den 1920er Jahren eindeutig. Titel sind meiner Meinung nach immer etwas ambivalent. Verdient hat er es, aber herbeigesehnt habe ich es persönlich nicht. Wichtiger ist, dass die Menschen mit ihm unterwegs bleiben.
Frage: Was meinen Sie damit?
Siebenrock: Newman sagt, dass der Glaube eine persönliche Angelegenheit ist und immer mehr werden wird. Er legt großen Wert auf die Bildung des Gewissens und auf die persönliche existenzielle Beziehung. Das heißt, Newman kann ein Begleiter sein, sein eigenes Leben, wie er sagt, vor Gott leben und es auch ein Stück weit zu erfinden, weil der Mensch in Sachen Lebensgestaltung "self-made" ist. Insofern kann Newman ein guter Animateur, oder Berater sein, seinen eigenen Weg vor Gott zu finden.
Frage: Sie haben Newman einmal als "Unruhestifter" bezeichnet. Was macht ihn zu so einem?
Siebenrock: Das ist eine nüchterne Einschätzung seiner Wirksamkeit. Als er katholisch wurde, hat er zunächst einmal versucht, in dieses "System" hineinzufinden. Ich bin der Überzeugung, er wusste nicht ganz genau, was die Realität der katholischen Kirche damals wirklich war. Er hat durch seinen Eintritt in die römisch-katholische Kirche die Bedeutung der Entwicklung der Lehre ganz stark gemacht. Das hat ihm schon kurz nach seiner Konversion 1846 Häresie-Vorwürfe aus Amerika eingebracht. Er hat 1859 eine Idee formuliert, die er schon als Anglikaner hatte: Es sei überaus nützlich, die Laien in Sachen der kirchlichen Lehre zu befragen. Auch das hat ihm einen Häresievorwurf eingebracht.
Deutlich wird er es auch bei seiner Auseinandersetzung mit dem Ersten Vatikanum, bei dem er für eine minimalistische Interpretation steht, der auch ich anhänge. Trotz aller vermeintlicher Festschreibung hat er der katholischen Kirche zugemutet, auf dem Weg zu bleiben. Sie ist noch nicht, wie viele meinten, in der Vollendung. Er sagt, wir gehen immer aus Schatten und Bildern in die Wahrheit. Newman nennt die Theologie das "prophetical office in the Church". Das muss ermahnen und ermutigen.
Roman Siebenrock ist emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Innsbruck und Vorsitzender der Internationalen Deutschen Newman Gesellschaft.
Frage: Was ist aus Ihrer Sicht das Bahnbrechende an seiner Theologie?
Siebenrock: Die Einheit von theologischer Reflexion und existenziellem Lebensweg. Er spricht davon, dass wir "real" werden müssen, als nicht nur begrifflich über Gott reden, sondern eine Anschauung brauchen, die das Leben des Einzelnen wirklich durchdringt. Das heißt, die Theologie sollte biografisch orientiert sein, an der eigenen Erfahrung. Die Entwicklungslehre habe ich schon genannt. Die Kirche ist immer auf dem Weg, sie geht auch manchmal in die Irre, in die Aporie. Die christliche Idee ist zu groß, als dass man sie einfach verpacken könnte. Wir verfügen nicht über sie, wir bezeugen sie. Er war fest davon überzeugt, dass es eine intime Beziehung des Einzelnen zu Gott gibt. Und hier bietet die Kirche mit allen ihren Sakramenten eine Hilfe, sie ist aber nicht die Mitte: Es gibt ein "principle of reserve". Ich glaube, an dieser Stelle hätte Newman einiges zu sagen, was sogenannter spiritueller Missbrauch anbelangt.
Frage: Ganz entscheidend ist seine Gewissenslehre.
Siebenrock: Er betont die Priorität des Gewissens gegenüber jeder Autorität. Er sagt: Wenn der König oder der Papst von mir absoluten Gehorsam verlangen würden, würde ich es keinen von beiden geben, denn das überschreite den Rahmen der Sittlichkeit. Das heißt auch, dass jeder Einzelne gegenüber der weltlichen und der geistlichen Autorität selbstverantwortlich ist. Zusammengefasst ist das in seinem berühmten Toast, der auch im Katechismus steht: Erst das Gewissen, dann der Papst.
Frage: Ich habe irgendwo gelesen, es sei Newman darum gegangen, die zeitlose Gültigkeit von Glaubensaussagen mit der historischen Entwicklung des katholischen Dogmas in Einklang zu bringen. Wie hat er das versucht?
Siebenrock: Ich weiß nicht, was Sie in diesem Zusammenhang unter zeitlos verstehen – das kommt bei Newman so nicht vor. Die Entwicklung des Christentums besteht für ihn in einer "Idee", die von Person zu Person weitergegeben und sich so entfaltet. Bei ihm gibt es sehr wohl eine Kontinuität in den Prinzipien. Als Beispiel ließe sich die Apostolizität oder die Priorität der Gnade nennen. Diese Prinzipien bilden die Grundüberzeugungen des christlichen Weges, die aber auf der Ebene des gelebten Lebens sehr viele Formen von verschiedenen Lebensformen hervorbringen. Insofern ist es eine Theologie, die auf Vernunft baut, aber sagt: Die Imagination, also die kreative Form, die Poesie, ist für die Theologie ebenso wichtig wie der Syllogismus. Er sieht Theologie also nicht nur als System, sondern breiter. Er ist Begleiter einer Kirche, die in einem großen Veränderungsprozess steht.
Papst Benedikt XVI. (2005-2013) sprach John Henry Newman 2010 in Birmingham selig.
Frage: Das klingt so, als könnte man Newman so eine Art Kronzeugen für die Möglichkeit von Veränderungen in der Lehre und in der Kirche sehen. Dennoch scheint es so, dass sich vor allem konservative Theologen oder Gläubige eher auf ihn berufen als – nennen wir sie mal so – progressivere. Da ist dann sogar davon die Rede, dass sich mit Newman keine "liberale" Theologie oder ein liberaler Glaube begründen lassen. Wie sehen Sie das?
Siebenrock: Newman kämpft ein Leben lang gegen das, was er den Liberalismus in der Religion beziehungsweise der Theologie nennt. Er tritt dafür ein, dass man von Wahrheit in der Religion sprechen müssen, weil die Offenbarung Gottes uns voraus ist, und uns im Gewissen in Anspruch nimmt. Andererseits erkennt er die unterschiedlichen Formen christlichen Lebens an, die ihm im Studium der Schrift und der Kirchenväter begegnet sind. Er beklagt oft, dass zu seinen Lebzeiten diese Vielfalt geschrumpft sei, und nicht nur die Kirchenleitung zu ängstlich reagiere. Insofern findet sich in Newmans Lebenszeugnis und Werk beides: Treue zur Kirche in ihrem apostolischen Auftrag und Einsatz für eine Weite in Lebensform und Lehre in der Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart.
Vielleicht liegt es an diesen beiden Aspekten, katholische Weite und Bekenntnis zur konkreten Kirche und ihrem Leben und ihrer Lehre, dass in seiner Wirkungsgeschichte glaubende Menschen miteinander verbunden werden, die sonst nie miteinander in Verbindung getreten wären. Auch die Newman-Gesellschaft ist eine sehr heterogene Gruppierung. Auch in ihr finden Sie – wenn sie die Schablone verwenden wollen – ganz Konservative und ganz Progressive. Das ist heute ein sehr wichtiger Punkt in der Kirche: Der Einzelne braucht den anderen auf dem Weg. Das ist für mich eine der wichtigsten Aspekte in seiner Bedeutung heute.
Frage: Was sagt er Konservativen oder Progressiven? Oder wie kann er beide versöhnen?
Siebenrock: Auf die Autorität der Kirche legt er hohen Wert. Manche würden sagen, das geht bis hin zu der Aussage, dass eine Sache beendet ist, wenn der Papst gesprochen hat. Ich persönlich würde aber sagen, dass das bei Newman so nicht der Fall ist. Vor einer maximalistischen Interpretation der Konstitution "Pastor Aeternus", in der die Unfehlbarkeit des Papstes und er Jurisdiktionsprimiat definiert wurde, hat er ausdrücklich gewarnt; und öffentlich ist für eine andere Interpretation eingetreten. Autorität des Papstes ist wichtig, aber sie ersetzt nicht das Glaubenszeugnis und den Weg der Suche. Er sagt deshalb, dass die "schola theologorum" das Dogma auslege – und nicht einfach Pius IX. Er ist dabei aber immer loyal gegenüber dem Papst und der Kirche geblieben, weil er davon überzeugt war, dass der Heilige Geist die Kirche leite und mit der Zeit sich durchsetzen werde.
„Vielleicht liegt es an diesen beiden Aspekten, katholische Weite und Bekenntnis zur konkreten Kirche und ihrem Leben und ihrer Lehre, dass in seiner Wirkungsgeschichte glaubende Menschen miteinander verbunden werden, die sonst nie miteinander in Verbindung getreten wären.“
Frage: Wie hat John Henry Newman die moderne Theologie geprägt?
Siebenrock: Es heißt immer, er sei der "geheime Peritus" des Zweiten Vatikanums gewesen. Erstens bei der Dogmenentwicklung, zweitens beim dreifachen Amt in der Kirche durch die Taufe. Das ist ursprünglich eine calvinistische Idee; sie kommt durch ihn die katholische Kirche. Das dritte ist ohne Zweifel die Bedeutung des Gewissens. Da zitiert sogar Gaudium et spes mit dem "Ruf einer Stimme" indirekt Newman (Nr. 16). Und das vierte ist die Haltung, existenzielle Theologie zu treiben. Das haben viele von ihm gelernt und konnten sich auf ihn berufen. Rom, etwa Romano Guardini.
Frage: John Henry Newman sieht das Prozesshafte in der Kirche – was hätte er dann zum synodalen Prozess in der Kirche zu sagen?
Siebenrock: Ich bin der Ansicht, dass er das Erste Vatikanum genau in diesen Prozess zwischen dem Glaubenszeugnis der Glaubenden, der Schule der Theologie und der bischöflichen Verantwortung integriert. In diesem Zueinander entsteht für ihn Kirche. Im Vorwort zur dritten Auflage seiner Essays zur Kirche, "Via Media" (1877), sagt er: das Problem ist, dass das ein Amt über das andere triumphieren will. Meiner Ansicht nach war Newman ein Anhänger dessen, was wir heute Synodalität nennen. Der synodale Prozess ist ja nicht einfach nur ein Entscheidungsfindungsverfahren, sondern eine Lebensform, in dem eine Gruppe die andere anerkennt. Newman kann ein Patron für einen synodalen Weg sein, der offen ist, und die Wahrheit sucht, wo immer sie uns begegnet.
Frage: Was kann die Kirche heute mit all ihren Herausforderungen von John Henry Newman lernen?
Siebenrock: Mein Lieblingszitat aus der "Via media" von ihm lautet: Wenn alles drunter und drüber geht, sollte man sich immer daran erinnern, dass die Geschichte der Kirche aufs Ganze gesehen "disaster and disorder" ist. Was können wir Christen da tun? Wir sollen tun, was immer getan worden ist, wenn wir nicht mehr weiter wussten: Beten und Gutes tun. Wir können unseren Glauben als glaubwürdiges Zeugnis leben. Was für die heutige Zeit sehr spannend ist: Am Ende seines Lebens war er davon überzeugt, dass das Christentum einer nichtreligiösen Gesellschaft entgegengeht. Er sagt sogar, das wir einer Gesellschaft entgegen gehen, in der die Idee Gottes verschwinden könnte. Dieser Herausforderung kann man nicht einfach mit einem System, abstrakten Strukturen oder mit Autorität begegnen, sondern nur mit gelebtem, glaubwürdigem Zeugnis antworten.
Literaturhinweis
Siebenrock Roman, Geier Jakob (Hg.): Wagnisse des Christseins. John Henry Newmans Weckrufe in die Realisierung des Glaubens heute. Ostfildern, Matthias-Grünewald-Verlag 2024.
