Vor 20 Jahren wurde der Gründer der Taizé-Gemeinschaft ermordet

Frère Roger: Ein Heiliger der Herzen – auch ein Märtyrer?

Veröffentlicht am 16.08.2025 um 00:01 Uhr – Von Alexander Brüggemann (KNA) – Lesedauer: 

Köln/Taizé ‐ Vor 20 Jahren wurde Frère Roger, der lebenslange Friedensarbeiter und Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, beim Abendgebet ermordet. Das Motiv der Täterin war wohl verrückte Leidenschaft. Ein Blick zurück auf eine schreckliche Tat.

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Mahatma Gandhi 1948. Martin Luther King 1968. Stephen Biko 1977. John Lennon 1980. Warum müssen Männer des Friedens einen gewaltsamen Tod sterben? Besonders sinnlos erscheinen solche Taten, wenn das Opfer eh schon im Winter seines Lebens steht. Gandhi war 78 Jahre alt und von zahllosen Hungerstreiks geschwächt, als ihn ein religiöser Fanatiker Auge in Auge erschoss.

Frère Roger, lebenslanger Friedensarbeiter und Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, war sogar schon 90 und saß im Rollstuhl, als am 16. August 2005, vor 20 Jahren, beim Abendgebet ein Schrei durch die Andacht in der Kirche von Taizé fuhr. Es gab kurz Bewegung, dann wieder Gesang. Nur wenige in der voll besetzten Kirche bekamen zunächst mit, was geschehen war: Luminița Solcan, eine geistesgestörte Elektroingenieurin aus Rumänien, hatte Frère Roger ermordet; niedergestochen mit einem extrascharfen Klappmesser, das sie noch am Nachmittag in einem Jagdgeschäft im nahen Cluny gekauft hatte.

Verrückte Leidenschaft als Motiv

Ihr Motiv war wohl verrückte Leidenschaft. Eigentlich wollte die so intelligente wie sprachbegabte Frau lieber Ordensfrau werden. Doch da ihre religiöse Schwärmerei offenkundig und ihre psychischen Probleme einschlägig bekannt waren, wurde sie nirgends aufgenommen. Auch in der ökumenischen Brüdergemeinschaft von Taizé – wo freilich nur Männer leben – versuchte sie ihr Glück. Als sie auch dort abgelehnt wurde, machte die 36-Jährige eine freimaurerische Verschwörung aus. Nach ihrer Mordtat vor 20 Jahren gab sie an, dass sie Frère Roger nur vor Verschwörern hatte warnen wollen. Jemand anders müsse ihn erstochen haben. Ihrer Verhaftung widersetzte sie sich nicht.

Brüder der Gemeinschaft von Taizé beim Gebet in der Kirche der Versöhnung
Bild: ©KNA/Katharina Gebauer

Brüder der Gemeinschaft von Taizé beim Gebet in der Kirche der Versöhnung

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem die Kirche in Europa händeringend nach Ordensberufungen sucht, ausgerechnet eine Frau einen der größten katholischen Hoffnungsträger tötet, die sich nichts mehr wünschte, als in einen Orden aufgenommen zu werden. Die Überlieferung von dem, was danach geschah, ist so taizégemäß wie nur irgend denkbar: Der blutende Greis wird diskret hinausgetragen und stirbt; ein geistesgegenwärtiger Taizé-Bruder stimmt den Gesang "Laudate omnes gentes" an. Lied 23: "Lobt, alle Völker, den Herrn". Die Gemeinschaft bleibt auch in ihrem schlimmsten Moment vereint im Gebet.

Frère Roger war längst bereit gewesen zu gehen: Dem Tod sah er, schon mit schwacher Stimme, gelassen entgegen – weil Gott den Menschen dann für immer bei sich aufnehme. Und doch bedauerte er, seine Brüder und die Jugendlichen bald verlassen zu müssen. Seine letzten Worte hatte er noch am Nachmittag des 16. August diktiert, aber dann, wohl aus Erschöpfung, mitten im Satz abgebrochen.

Ein zusätzlicher freier Stuhl – für Frère Roger

Eine schöne Fußnote der Geschichte ist, dass der damals neue Papst Benedikt XVI. (2005-2013) den Grußbrief Frère Rogers zum zeitgleich stattfindenden Weltjugendtag in Köln just an dessen Todestag erhält. Jener deutsche Papst, Joseph Ratzinger, der im Jubel von Köln gerade die vielleicht triumphalsten Stunden seiner Amtszeit feiert; und der dem geborenen Calvinisten Frère Roger kurz zuvor, noch als Kardinaldekan, bei der Beisetzung Johannes Pauls II. im April öffentlich die Kommunion gereicht hatte.

Der deutsche Taizé-Bruder und Katholik Frère Alois leitet nach Erhalt der Todesnachricht noch das abendliche Taizé-Gebet beim Kölner Weltjugendtag, wo ein zusätzlicher freier Stuhl – für Frère Roger – aufgestellt wird. Danach fährt Frère Alois die Nacht durch, zurück nach Burgund. Er ist jetzt der Prior von Taizé, wie es schon seit Jahren feststand. Doch trotz aller Kontinuität und Unaufgeregtheit: Taizé ohne Frère Roger, das war zuvor nicht denkbar gewesen.

Bild: ©katholisch.de (Archivbild)

Frère Alois Löser folgte Frère Roger nach dessen Ermordung als Prior von Taizé nach.

12.000 Menschen kommen zur Beisetzung. Wer könnte eine Zahl nennen, wie viele Menschenleben der Gründer von Taizé durch sein Charisma entscheidend verändert hat? "Vater, verzeih ihr, denn sie wusste nicht, was sie tat." So betet der neue Prior Frère Alois bei der Beisetzung des Taizé-Gründers – in Anlehnung an das Wort Jesu am Kreuz. Und denselben Satz sagt er auch im Mai 2008 in der Kathedrale von Iași (Iassy), gemeinsam mit der unglücklichen Mutter von Luminița Solcan. "Es war mir ein großes Bedürfnis, mit dieser tiefgläubigen Frau zu beten", berichtete Frère Alois später. "Sie hat keine weiteren Familienangehörigen mehr – und gemeinsam konnten wir ihre Tochter der Vergebung Gottes anvertrauen." Luminița Solcan lebt seither in der Psychiatrie, bis 2011 in Frankreich, danach in Rumänien.

"Heiliger der Herzen"

Ist Frère Roger für seinen Glauben gestorben? Ist er ein Märtyrer? Ohne Zweifel ist er in seinem Glauben gestorben – und hätte er nicht diesen Glauben gehabt, wäre er sicher nicht auf diese Weise gestorben. Längst wäre er wohl ein Heiliger, hätte der Calvinist am Ende seines langen Lebens einen zweifelsfrei "katholischen Pass" gehabt. Längst wäre er wohl ein Heiliger, kennte die evangelische Kirche Heilige im katholischen Sinne. Längst wäre er wohl ein Heiliger, wäre seine Vision von christlicher Ökumene bereits Realität geworden.

So bleibt Frère Roger einstweilen ein "Heiliger der Herzen". Ein schlichtes Holzkreuz vor der romanischen Kirche in Taizé trägt seinen Namen, und immer stehen dort frische Blumen. Luminița Solcan stand vor 20 Jahren für ein paar Sekunden im Fokus der Kirchengeschichte. Lieber aber wäre sie wohl Ordensfrau geworden.

Von Alexander Brüggemann (KNA)